27. August 2004

Fünfunddreißig Frauen

 

Was haben Mönche, die in die Wüste ziehen oder dort hausen, mit Statistik zu tun? Oder Frauen, die in Heiligenlegenden vorkommen, mit systematischen Übersichten? Diese nicht ganz uninteressanten Fragen beantwortet dieser schmale und doch so reiche Band, der die hier erzählten Geschichten und Geschichtchen im Rahmen einer Versuchsanordnung präsentiert, wonach die Probe aufs Exempel gemacht wird, ob Frauen samt und sonders Töchter Evas sind oder nicht. Eva, die mit dem Apfel, Verführerin Adams. Stimmt gar nicht, so Leskow, der in der „ältesten gedruckten und übersetzten Heiligenlegende…, deren Text von jener abweicht, die nach der Zeit Peters des Großen ediert wurde“, nachgeschaut und festgestellt hat, dass jene keinerlei kirchliche Autorität genießt, also als apokryph zu bezeichnen und deshalb nur um so interessanter ist, da zu vermuten steht, dass hier ausgeschlossen wurde, was man nicht so gerne sehen wollte.

 

Was der Leser von Leskow erzählerisch zusammengestellt bekommt, ist also zugleich verschüttet-authentisch und der Kategorie der ,leeren und zu belächelnden Fabeln’ (Feofan Prokopowitsch) zuzurechnen, da die Legenden keinerlei kirchliche Autorität genießen. Angestachelt von der damaligen russischen Frauenfrage, vielleicht auch beauftragt vom Übervater Tolstoi, machte sich Leskow schlau und fand heraus, dass es pure Lüge sei zu behaupten, die „Überlieferungen“ hätten dem Ruf der Frau geschadet, denn in den Überlieferungen tauche die Frau als Verführerin des Mannes so gut wie gar nicht auf. Leskow fand beim Durchforschen des Materials „genau einhundert Themen oder ,Beispiele’, die mehr oder weniger taugliches Material für dichterische Wiedergabe boten, und in fünfunddreißig von diesen hundert Geschichten spielt die Frau eine Rolle.“

 

Die Anordnung der in fünf Teile gegliederten Legenden ist äußerst raffiniert – und sehr lustig. Denn im ersten Abschnitt – immerhin die Hälfte der Geschichten – kommt die Frau als Handelnde und somit als bewusst Verführende gar nicht vor. Es ist der ganze Aberwitz des (zwar kirchlich oder sektenmäßig eingebundenen, aber letztlich doch leicht wiedererkennbaren) Mannes, der hier vorgeführt wird. Bischöfe, die in ,Fleischessünde’ fallen, greise Wüstenmönche, die plötzlich mit den Unbilden des Familienlebens konfrontiert werden, andere Wüstenmönche, die erstaunliche Verfahren entwickeln, sich dem Bild der schönen Frau erfolgreich zu entledigen, gefallene Einsiedler, deren beschmutztes Inneres in einer einmaligen Operation herausgeschnitten, gesäubert und wieder eingesetzt wird, bildschöne Jungmönche, deren einmaliger Fehltritt eine diesmal nicht nur symbolische Kastration nach sich zieht…

 

Es folgt dann die zweite Kategorie weiblicher Personen (die ja in der ersten, wie gesagt, nur als Anlass für männliche Tölpelei erschienen), „die uns kompliziertere und interessantere Charaktere vorführen sollen.“ Spätestens bei dieser Abteilung ist man bei „1001 Nacht“ angelangt, der Anti-Wüste, der Opulenz, und die erste, überhaupt längste Geschichte ist auch gleich eine Verführungsgeschichte, die natürlich, das hatte der Autor ja angekündigt, scheitert, in gewissem Sinn aber den Aberwitz der ersten Abteilung wieder aufnimmt und von einem Happyend zu erzählen weiß, das sich vor Hollywood nicht zu verstecken braucht. Überhaupt gäbe es für den Film manche Herausforderung, dem ein oder anderen Überzeugungsbewahrer als Selbstverstümmler kameramäßig die Treue zu halten oder die Versalzsäulung der Versucherin dokumentarisch zu beglaubigen. Auch wenn am Ende der Versuchsreihe der moderne Leser als Ergebnis festhalten wird, dass die Frau vom Regen der Verführungszuschreibung in die Traufe des guten Opfers gefallen ist, wird er nicht umhinkommen zu sagen, dass er selten etwas gelesen hat, das auf so engem Raum Lakonie, leise Ironie und allerkrudeste Thematik versammelt hat. Einfache Geschichten, ganz groß.

 

Dieter Wenk (08.04)

 

Nikolai Leskow, Legendäre Charaktere. Versuch einer systematischen Übersicht, Berlin (Union Verlag), o.J.