16. August 2004

Älterer Herr, junge Dame

 

In einem späteren Vorwort zu einer Taschenbuchausgabe seines 1967 erschienenen intellektuellen Bestsellers „Die Gesellschaft des Spektakels“ schrieb Guy Debord, er habe das Buch verfasst mit der Absicht, eben dieser Gesellschaft zu schaden. Philippe Sollers teilt mit dem von ihm verehrten Debord die dahinter liegende Auffassung, dass Bücher, Literatur (gewisse Bücher, eine gewisse Literatur) gefährlich sein können. Die Geschichte der Zensur scheint diese Einstellung zu bestätigen. Und die so genannte permissive Gesellschaft? Geht in ihr alles? Noch irgendwelche Tabus in Kraft? Vermutlich. Man muss nicht gleich an Kinderpornografie denken.

 

Jedenfalls scheint Debord keinen Roman geschrieben zu haben, der von der unterstellten Gefährlichkeit erzählt hätte. Wie kann man als Literat so etwas wie ein Terrorist sein? Oder als ganz normaler Sterblicher, allerdings ohne Gürtel oder Knarre? Diese Fragen treibt seit langer Zeit Philippe Sollers um. Sollers will kein Voltaire’scher Kleingärtner sein, der sich vom Getriebe der Welt zurückzieht und in der Verborgenheit ein bisschen hier, ein bisschen da herumvögelt (immer noch, aber nicht mehr so doll wie früher). Immerhin gibt es eine Wahrheit zu verkünden, die besagt, dass so mit das Bescheuertste, was die Welt bisher gesehen und selbst hervorgebracht hat, eben die Gesellschaft des Spektakels ist. Der Held dieses Romans schnappt sich also eine junge Braut (Maud) und reist auf eine Insel. Hier herrschen endlich Natur, die Sterne, die Vögel (ganze Listen von Namen werden enzyklopädisch geboten), die Luft und die Wörter. Anstelle des globalen Schwachsinns die Weisheiten chinesischer Dichter aus dem 8. Jahrhundert. Wer es noch nicht weiß: Die Hälfte der Sollers’schen Romane (seit „Femmes“, 1983, bei den früheren merkt man’s nicht so schnell) besteht aus langen Zitatketten, die meist mit „ou bien“ oder „ou encore“ miteinander verbunden sind. Das sind die Trüffel, die der Autor mit großer Genugtuung apportiert. Die Höhepunkte der mondialen Literaturgeschichte. Best-of, präsentiert von DJ PSollers.

 

Ob gewollt oder nicht, keine Frage, dass hier der eigentliche Terror steckt. Zitatbomben. Flächenbrände des guten Geschmacks. Selbstversengungen der natürlich nie wirklich von den anderen (und das sind alle außer dem Helden) rezipierten Klassik. Friedrich Nietzsche hat irgendwo mal geschrieben, dass es nicht sonderlich sinnvoll sei, gute Stellen nahtlos aneinander zu reihen. Der notwendige Spannungsbogen fehle schmerzlich. Der Gipfel braucht das Tal. Die gute Stelle die weniger gute, die dadurch allein schon auch ganz gut wird. Aber der Leser urteile selbst, auf Seite 71 lesen wir (eine kleine Auswahl): „,Was du liebst, bleibt, der Rest ist Abfall.’ Oder auch: ,Morgendlicher Mond gegen aufgehende Sonne, wie auf einer der schönsten griechischen Münzen.’ Oder auch: ,Denn sie führen einen gnadenlosen Krieg gegen die Kontemplation.’ Oder auch: ,Studiere mit der Seele eines Enkels, und beobachte die Zeit wie ein Falke.’“ [Übersetzung: D.W.] Natürlich ist es auch in diesem Buch wieder so, dass der Held genau das Buch schreibt, was der Leser liest. Aber auch schon der Geliebten fällt auf, dass der gute alte Mann exzessiv abschreibt. „Sie zitieren viel.“ „Das sind keine Zitate, sondern Beweise.“ „Beweise wofür?“ „Dass es nur eine fundamentale Erfahrung durch die Zeit hindurch gibt. Unterschiedliche Formen, unterschiedliche Namen, aber die gleiche Sache. Und eben das genau ist der Roman.“

 

Der Roman bei Sollers, das ist das Antisoziale schlechthin. Man muss die ganze Welt aus sich rausschmeißen, bis nur noch ein Text übrig bleibt, ein Spiel. Der Rest ist Propaganda. Was bei Peter Handke noch als Versuch gedacht war und auf einen Tag begrenzt, hier wird es Ereignis: das geglückte Leben. Aber der Leser ahnt: Es ist kaum zum Aushalten, dieser „Text“.

 

Dieter Wenk (08.04)

 

Philippe Sollers, L’Étoile des amants. Roman, Paris 2002 (Gallimard)