13. August 2004

Präzession des Objekts – ohne spätere Zession

 

Den leicht angeschmockten Titel von Hoffmanns erfolgreicher, 1819 erschienener Erzählung ersetzte Paul Hindemith gut hundert Jahre später für seine Oper durch den kompakten Namen „Cardillac“. René Cardillac, Goldschmied in Paris unter der Herrschaft des Sonnenkönigs. Aber nicht irgendeiner, der Goldschmied seiner Zeit. Seine Tochter Madelon verliebt sich sofort in den äußerst talentierten Gehilfen Olivier Brusson, der nicht erst lang überlegen muss, ob er zurücklieben soll.

 

In einer eingeschobenen Erzählung Oliviers dem Fräulein von Scuderi gegenüber erfährt der Leser von dem bösen Stern, unter dem Cardillac bereits vor seiner Geburt stand. „Weise Männer sprechen viel von den seltsamen Eindrücken, deren Frauen in guter Hoffnung fähig sind, von dem wunderbaren Einfluss solch lebhaften, willenlosen Eindrucks von außen her auf das Kind.“ Bei der pränatalen Mitgift handelt es sich um eine „blitzende Juwelenkette“, die ein Kavalier in spanischer Kleidung anlässlich eines Hoffestes um den Hals trägt und von der die werdende Mutter Cardillacs den Blick nicht mehr abwenden kann: „Ihr ganzes Wesen war Begierde nach den funkelnden Steinen, die ihr ein überirdisches Gut dünkten.“ Behängt mit diesen „agalmata“, vermag der Kavalier die Frau an einen einsamen Ort zu führen, doch in dem Moment, wo er sie fasst und sie den Schmuck, bricht der Mann tot zusammen: „Die hohlen Augen, deren Sehkraft erloschen, auf sie gerichtet, wälzte der Tote sich mit ihr auf dem Boden.“

 

Kein schönes Bildarchiv, was die Frau von da ab mit sich führt und dem Fötus zumutet. Und in der Tat zeigt Cardillac von klein auf für nichts Interesse als für Schmuck. Keine Frage, dass er später leichten Zugang zu Frauen haben wird. Madelon ist das lebende Zeugnis dafür, dass es zumindest eine Verbindung gegeben haben muss, aber während der ganzen Erzählung wird ihrer Mutter, also der Frau Cardillacs, mit keinem Wort gedacht. Aber zunächst zurück zu den schönen Steinen. Cardillac stellt mit Begeisterung die schönsten Geschmeide her, aber einmal vollendet, mag der geniale Kunsthandwerker das Auftragsstück nicht mehr herausrücken. „Sowie ich ein Geschmeide gefertigt und abgeliefert, fiel ich in eine Unruhe, in eine Trostlosigkeit, die mir Schlaf, Gesundheit – Lebensmut raubte.“ Nicht nur Frauen, auch ein Mann bestätigt damit, dass es sich bei Schmuck um keine reine Äußerlichkeit handelt. Er ist ein Teil des eigenen Körpers, ihn, den Schmuck, abzulegen, wegzugeben, hieße, eine Wunde dem eigenen Körper zuzufügen. Auch bei Cardillac heißt es also: „Die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug.“

 

Der berühmte Mann findet einen Weg, sich den abgelieferten, jedoch das Innigste seiner selbst darstellenden Schmuck wieder anzueignen. Sein Keller ist ein einziges Kunstgewerbemuseum, allerdings nur für den eigenen Gebrauch. Natürlich ist es nur eine Frage der Zeit, dass ihm die Methode der Rückgewinnung zum Verhängnis wird. Er geht an sich selbst zu Grunde. Aber noch einmal: Was war mit seiner Frau? War sie vielleicht sein erstes Opfer? Seine innere Stimme ließ ihm ja keine Ruhe: „Es ist ja dein – es ist ja dein – nimm es doch – was sollen die Diamanten dem Toten!“ Lebende Tote mit Schmuck behangen? Das geht gegen den Geschmack. Außerdem: Warum wird auf den ersten Seiten der Erzählung so viel von Giftmorden berichtet? Diese wunderschöne Entdeckung, dass es Mittel gibt, ohne Rückstand die Lebenden zu den Toten zu befördern? Man muss sich Frau Cardillac als eine schöne Leiche vorstellen.

 

Dieter Wenk (08.04)

 

E.T.A. Hoffmann, Das Fräulein von Scuderi, diverse Ausgaben, z.B. Reclam