4. August 2004

Noah II

 

Ein Effekt der Säkularisierung besteht darin, dass man selbst drauf kommen muss, wenn es soweit ist, den Koffer zu packen und den Ort zu wechseln. In früheren, mythischen Zeiten musste die Emigration erst erfunden werden. Und die, die etwas falsch gemacht hatten, wurden erst im Nachhinein über die Sanktionen aufgeklärt, die im Fall der Sintflut gleichkamen mit dem Todesurteil. Noah war der erste religiös Naive im Schiller’schen Sinn, er machte alles richtig und wusste gar nichts davon, das hat ihm das Leben gerettet. Gleichzeitig war er der erste Zoodirektor.

 

Colin Kreuzer in Skye Boat Song ist auch so eine Art Noah, nur wartet er nicht auf den Befehl Gottes, sondern erteilt sich selbst den Auftrag nach gewissenhafter wissenschaftlicher Symptomenanalyse. Die Welt ist dem Untergang geweiht, zum sechsten Mal, die Sintflut noch gar nicht mitgerechnet. Kreuzer ist ein Self-made-man, soweit man das in unseren Zeiten sein kann. Ein Allround-Talent, der nicht nur gute Musik macht (Shannon), sondern auch wissenschaftlich mehr als begabt ist und außerdem einen tollen Familienvater abgibt. Colin ist aber auch ein Ahasver, der schließlich abhebt. Nicht jeder allerdings hat die Möglichkeiten, auf Mobbing im sozial hässlichen, dafür jedoch städtebaulich deutschlandweit (?) zweitschönsten Ort Hamburg auf Colins Art zu reagieren. Emigration nach Borbruck. Aber auch hier heißt es: Kein Ort, nirgends, also muss man ins All. Kreuzer hat ein paar Freunde um sich geschart, man darf vermuten, dass es die wissenschaftliche Elite der Welt ist, auf dass ein Wiedereintritt der Welt im Kosmos geschehe.

 

Erzählt wird ruppig. Man wird von einem Plateau (Achtung, griechische Buchstaben nebst Wiege der Welt im Geviert) zum nächsten verwiesen, verwirrende Einsprengsel künden von Unzugänglichkeiten und Spezialwissen, die gleichzeitig sicherstellen, dass die Reinstallation auf einem anderen Terrain gelingt. Der Autor taucht selbst auf als Verfasser von Titelgeschichten für ein hippes Magazin, das jeder kennt, aber wohl auch untergehen muss. Figuren werden mehr oder weniger angerissen, manchmal auch aufgerissen im nicht-amourösen Sinn, da stellen sich dann Bilder ein von Filmen wie „Das Schweigen der Lämmer“, nur dass in diesem Fall die Täter kein krankes Hirn haben müssen, um Kunstwerke auf anatomischem Sektor zu produzieren. Alterslose rothaarige Schönheiten sitzen in borbrucker Studentenkneipen, um um 6 Uhr morgens geschwächte, dafür aber Welträtsellösungs-ambitionierte Doktoranden zu bezirzen. Andere Mädchen tragen lange Narben im Gesicht, fahren gerne Fahrrad und sind romantisch veranlagt.

 

Ach ja, die Romantik, Novalis, die Entzifferung der Steine, Natur und Kunst die zwei Seiten, die sich nur scheinbar gegenüberliegen, weil sie auf der gleichen (selben?) Ebene liegen, Symbole verweisen paradoxerweise nur auf sich selbst, und deshalb heißt es in diesem Buch immer mal wieder: „Lies nicht symbolisch, was wörtlich verstanden werden will.“ Also, man lese dieses Buch, und fange an zu bauen, schaue jeder, wie weit er kommt.

 

Dieter Wenk (08.04)

 

Dietmar Dath, Skye Boat Song, Berlin 2000 (Verbrecher Verlag)