29. Juli 2004

Die Unsterblichkeit des Klemens August Braun

 

Bei Dietmar Dath gibt es diese Namen, Namen von Städten, zum Beispiel Kandor, in Phonon, oder immer wieder Borbruck. Kandor klingt nach Comic und Sciencefiction, aber natürlich darf man auch an Köln denken. Man müsste bei all diesen autofiktionalen, den Schlüssel reichenden, aber das Umdrehen dem Leser überlassenden Romanen einmal untersuchen, warum was verbrämt wird, anderes dagegen nicht. Spaß macht es allemal, Autor, so darf vermutet werden, und Leser. Aber natürlich geht es nicht um 1:1 Umsetzungen (Freud an Arnold Zweig: „… denn die biographische Wahrheit ist nicht zu haben, und wenn man sie hätte, wäre sie nicht zu brauchen.“). Sobald man liest, bringt man sowieso seine eigene Truppe mit. Die ganzen und nicht ganz so vollständigen Avatare, die nicht aufhören, sich zu schälen oder sich neu aufzuladen.

 

Und dann gibt es ja immer noch den Klappentext, der den Nicht-Spex-Kenner darüber informiert, dass Phonon vielleicht kein Staat ohne Namen ist, aber vermutlich den ein oder anderen Zug von der Kölner Musikzeitschrift entlehnt. Aber vielleicht doch so etwas wie ein Staat im Staat? Der neue Chefredakteur Martin Mahr wird von einem seiner Redakteure aufgeklärt: „… PHONON jedenfalls ist nicht das, als was es sich verkauft. Keine Zeitung, sondern eine Sekte. Mit allen Folgen für die Kultmitglieder, die man kennt: Auszehrung, psychische Abhängigkeit, das Gefühl, den Normalsterblichen was vorauszuhaben…“ Eben, die Welt will betrogen werden, wirklich alle, der Unterschied besteht allein darin, wie man dabei vorgeht oder mit was man sich schon zufrieden gibt. Und ob man jetzt der Staat ist oder auf dem Sektor von Zeitungen und Zeitschriften agiert, immer heißt es, volle Lüge voraus: „Ich, die Wahrheit, ich spreche.“ Leser und andere Abonnenten ziehen dann ihre jeweilige Wahrheitskarte.

 

Im Jahre 1999 hatte man Spaß daran, sich mit numerischen Dingen zu beschäftigen. Wann durfte, wann musste man feiern? Und überhaupt, Jahrtausendwende, endlich einmal wieder die Gelegenheit, an die Apokalypse zu erinnern. Dietmar Dath nimmt davon in „Phonon“ nur so viel auf, dass alles, in deutschen Landen genauso wie in der kandorischen Zeitschrift PHONON, den Bach runtergeht. Die kaiserliche Republik unter Bundeskanzler Schröder und der Eulenprinzessin Patrizia I. leidet unter unschönen Attacken, brave Bürger liegen morgens tot auf der Straße, Roboter werden unter den Sterblichen vermutet, sogar die PHONON-Redaktion scheint infiltriert. Aber es gibt noch ganz andere Katastrophen für das hippe Blatt: Anzeigen brechen zunehmend weg, ergo fehlt massiv Geld, Mitarbeiter sind nicht mehr so motiviert, es geht das Gerücht, dass die Zeitschrift ihre beste Zeit hinter sich habe, und in diesem Augenblick wird auch noch dieser doch eher zurückhaltende, sensitive Martin Mahr zum Chef gekrönt, der auch nicht so richtig weiß, was die Welt gerade am ehesten braucht.

 

Wäre er mal lieber ganz dicht bei den Gippies geblieben wie seine Schwester. Aber dann hätte es nicht diese sehr schöne Inzestgeschichte gegeben, die nur vor dem Hintergrund eines fulminanten geschwisterlichen Urzwists möglich war. Wie auch immer, der Terror im Staat nimmt zu, proleptische 11.-September-Szenarien geben dem Roman nachträglich hellseherische Züge, am Ende wird PHONON selber aufgemischt, der Feind ist unklar, das Schicksal des Helden Mahr ebenfalls. Vielleicht darf man auch an Hans Castorf denken, der ja auch unsanft von seinem Baum runtergeschmissen wurde – und unten wartete der Erste Weltkrieg.

 

Das jetzt wieder aufgelegte „Phonon“ (Erstauflage 2001) hat vielleicht nicht die Poesie von „Am blinden Ufer“, nicht die spannende Seltsamkeit von „Schwester Mitternacht“, glücklicherweise nicht die Chaotik von „Cordula killt dich!“ (trotzdem, das erste Kapitel ist schon ziemlich klasse), aber es ist wohl am dichtesten an der Wirklichkeit dran, von der es noch gar nicht alles wissen konnte (was den Autor, wie das Nachwort zeigt, selbst überraschte). Wie dicht, das darf man jetzt wieder testen.

 

Dieter Wenk (07.04)

 

Dietmar Dath, Phonon oder Staat ohne Namen. Roman, Berlin 2004 (Verbrecher Verlag)

 

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