24. Juli 2004

Die heimlichen Welten des Labors

 

Als der Kulturbegriff – postreligiös – im 18. Jahrhundert erfunden wurde, bestand eine seiner zentralen Aufgaben darin, für Seinsaussagen, die wahr oder falsch sein konnten, zur Verfügung zu stehen. Keine Frage, dass für Niklas Luhmann dieser Begriff der Kultur einer der „schlimmsten“ war, „die je gebildet worden sind“. Philosophisch lässt sich der Übergang von einem Verständnis von Kultur als unerreichtem oder unerreichbarem Traditionsblock aus Griechentum und Weimarer Klassik (für Deutschland) hin zu einem mehr arrangementhaften, auf bestimmt Zwecke orientierten Begriff im 19. Jahrhundert begreifen als der Wechsel von Schopenhauer zu Nietzsche; weg von einer Kultur des Stillstands, hin zu einer der signalhaften Übertragung von Kräften und Intensitäten.

 

Dass hier noch ganz unerforschte Tätigkeitsfelder für Künstler bereitlagen, die die überkommenen kathartischen Zweck-Mittel-Rezepte nicht mehr übernehmen konnten oder mochten, weil ihnen bestimmte neue Erkenntnisse des 19. Jahrhunderts keinen naiven Rückgriff mehr auf einfache Kausalitätsverknüpfungen erlaubten, das zeigt in diesem Sammelband der Aufsatz von Armin Schäfer und Joseph Vogl „Über ein Ereignis des 19. Jahrhunderts“, nämlich das der „Entladung“ oder „Auslösung“, wonach unmerkliche Einsätze unabsehbare Folgen nach sich ziehen, gezeigt an dem auf verschiedenen gesellschaftlichen Feldern virulenten Begriff der Masse. Die Übertragung, die im Falle Nietzsches vom naturwissenschaftlichen Fach hinüber in die Bereiche der Ontologie, Ästhetik und Moralphilosophie vollzogen wurde, war jedoch nicht notwendigerweise eine, die vom Wechsel in die Gegenrichtung begleitet wurde. Im Gegenteil: Der Wiener Physiologieprofessor Sigmund Exner fand es noch am Ende des 19. Jahrhunderts skandalös, dass auf Gemälden der Renaissance Figuren gegen alle Gesetze der Naturwissenschaft, etwa als Engel, durch die Lüfte sausten. Als Korrektiv bot er Gebilde an, die vermutlich nicht mehr der engelhaften Leichtigkeit, wohl aber als experimentell abgesicherte Monstren der naturwissenschaftlichen Strenge des Forschers entsprachen.

 

In dem sehr lesenswerten Artikel von Otniel E. Dror wird gezeigt, welche labortechnischen Konsequenzen sich daraus ergeben, Tieren menschliche Gefühle wie Angst, Eifersucht, Freude, Zufriedenheit usw. zuzuschreiben. Paradoxerweise führt das experimentelle Aggregat nämlich dazu, den tierischen Körper für physiologisch relevante Daten soweit zu präparieren, als ob der Forscher es mit einem souverän kontrollierbaren Tiermechanismus zu tun hat, der sich dann kaum noch vom cartesischen Konzept der Tiermaschine unterscheidet. „Die Anfechtbarkeit der mechanistischen Sichtweise“, so schreibt der Autor, „ergab sich keineswegs daraus, dass sich vitalistische, phänomenologische oder holistische Modelle durchgesetzt hätten, sondern aus der Radikalisierung einer Methode, die noch die Gefühle mechanisch verstand. Diese Mechanisierung des Gefühls pflanzte ins Herz des maschinellen Organismus eine affektive Dimension ein. Sie verwandelte den in mehrfacher Hinsicht vorhersagbaren und beherrschten Körper in eine idiosynkratische, in ihren Abläufen unvorhersehbare Maschine, die jedem Eingriff bestimmte Grenzen setzt.“

 

Abgesehen davon, dass die hier versammelten Aufsätze alle sehr lesenswert, teilweise auch spannend sind, liegt nicht der kleinste Genuss der Lektüre darin, dass diese selbst zum Experiment wird, denn in jedem Artikel wird ein Punkt oder eine Grenze erreicht, von dem oder von der aus das Weitere ins Unbestimmte ausflockt, sei es, weil das Wissen des Lesers begrenzt ist, sei es, weil der Leser nicht auch noch darüber in Kenntnis gesetzt wird, was zum Beispiel aus den gigantischen Datensammlungen etwa eines Pawlow extrapoliert wurde. Viel mehr kann man von einem Buch nicht verlangen, ein bestimmtes Quantum von dem beim Lesen freizusetzen, um das es im dem Buch selbst geht. Ob allerdings, wie Bruno Latour in seinem Eingangsessay behauptet, die ganze Welt sich in einem „multinaturalistischen“ Experiment befinde, wonach Welt und Versuchsanordnung in einem Verhältnis von 1:1 stünden, daran darf durchaus gezweifelt werden. Schließlich ließe sich dann auch sagen, dass die ganze Welt ein Witz sei – und nur noch auf die Pointe warte.

 

Dieter Wenk (07.04)

 

Kultur im Experiment, hg. von Henning Schmidgen, Peter Geimer, Sven Dierig, Berlin 2004 (Kulturverlag Kadmos)