21. Juli 2004

Seltsame Romantik

 

Die aufmüpfigen 60er Jahre fingen bekanntlich schon in den späten 50ern an, jedenfalls in Frankreich: nouvelle vague, nouveau roman, nouvelle cuisine und, vermutlich weniger bekannt, nouveau romantisme, den 1958 der damals 22-jährige und fleißig für das Wochenblatt „Arts“ schreibende Student der Politikwissenschaft Jean-René Huguenin forderte. Es war so ziemlich das Gegenteil von dem, was man zumindest in Deutschland mit Romantik in Verbindung bringt, was der junge Mann seinen Landsleuten abverlangte: Härte, Männlichkeit, Entschiedenheit, Opferbereitschaft. Huguenin war auf der Suche nach einem neuen Ziel, und deshalb kam ihm der Konflikt mit Algerien gerade recht, der den Franzosen einen neuen Feind in Gestalt der Araber bescheren würde, an dem der sträflich herumlungernde französische Heroismus wieder erstarken könne. So heißt es in einem Artikel in „Arts“: „Ich bevorzuge Männer, die für falsche Ideen kämpfen und für sie zu sterben bereit sind gegenüber denen, die für nichts kämpfen und feist sterben.“ Die Stimmung in Frankreich muss ja wirklich verheerend gewesen sein. Hier spricht kein Zynismus, sondern die nackte Verzweiflung.

 

Von dieser Verzweiflung ist auch Huguenins erster und einziger Roman – er starb 1962, 26-jährig, bei einem Autounfall – geprägt, der an der bretonischen Küste spielt und in dem Moment einsetzt, als der junge Olivier nach seinem zweijährigen Militärdienst bei seiner Familie eintrifft, um bei ihr seinen Urlaub zu verbringen. Die Mutter ist kränklich, die ältere Schwester Berthe krank und tablettenabhängig, der Vater tot – er starb während des Krieges, vermutlich als Deserteur – und die jüngere Schwester Anne will Oliviers besten Freund aus früheren Tagen, Pierre, heiraten. Olivier muss man sich ein wenig wie einen Anwärter auf den Titel eines „neuen Romantikers“ vorstellen, er sitzt mit seiner Intelligenz, seiner Bereitschaft auf Neues in den Startlöchern, allein es fehlt das Ziel, auf das hin er sich entwerfen kann, und so fließt seine Energie, halb willkürlich, halb unwillkürlich, in desaströse Bahnen. Er spürt die Halbherzigkeit des zukünftigen Brautpaars auf und schiebt sich zugleich als charismatische Figur vor und zwischen Anne und Pierre, die beide mehr und mehr nach seiner Pfeife tanzen. Die jungen Leute unternehmen mit ihren Freunden Ausflüge an den Strand, aber es kommt nie Ausgelassenheit auf, ein seltsames Gesetz der Schwere scheint sie alle zu lähmen.

 

Dann kommt eine Szene, auf die der Leser schon die ganze Zeit gewartet hat, es kommt zu einer Begegnung zwischen Anne und Olivier auf einer als „gefährlich“ etikettierten Insel, und der Leser ist gespannt darauf, wie sich das schmutzige Geheimnis des vermuteten Inzests entfalten wird. Die „Szene“ spielt sich ab vor dem Hintergrund eines früheren kindlichen Spiels zwischen Anne und Olivier, „toter Mann“ genannt, und etwas muss unerledigt geblieben sein, zumindest für Olivier, der kurz vor der Entdeckung seines Geheimnisses – seiner mehr als geschwisterliche Liebe für Anne – aus dem Spiel geschleudert wird, und zwar aus der Logik des Spiels selbst. Ein Knoten, der unbarmherzig zusammengezogen wird, und der von nun an im unerfüllten Herzen herumschlägt. Diese unglücklich in die Vergangenheit sich zurücksehnende Unruhe ist der geheime Magnet, der Olivier seine ständig abströmende Konsistenz verleiht und ihn zwischen Destruktion und Selbst-Destruktion hin und herpendeln lässt.

 

Als das Buch im Herbst 1960 erschien, wurde es sofort von allen Seiten, jedenfalls von „rechts“ (Mauriac) und von „links“ (Aragon), bejubelt, zum Goncourt hat es aber dann doch nicht gereicht. Es ist zweifellos „gut geschrieben“, gänzlich unbeleckt von den Zumutungen bzw. Reduktionen des nouveau roman. Jean-René Huguenin gehörte zum Gründungskomitee der Zeitschrift „Tel Quel“ (u.a. Jean-Edern Hallier, Jean Thibaudeau, Philippe Sollers); nach ein paar Monaten warf man Huguenin hinaus, weil er nicht zu den Sitzungen erschien – er arbeitete gerade fieberhaft an „La côte sauvage“. Truffaut versuchte man zu überzeugen, das Buch zu verfilmen, allein dieser entschied sich für eine weniger verkrampfte Literatur: Jules und Jim.

 

Dieter Wenk (07.04)

 

Jean-René Huguenin, La côte sauvage, Paris 1960 (Seuil ; J.R. H., Klippen, Frankfurt am Main 1962, Suhrkamp)