17. Juli 2004

Applaus vom „Kreml und Vatikan“

 

Das stärkste an diesem Buch ist vielleicht der konsequent durchgehaltene Ton, der allem, was ihm als Rohmaterial gereicht wird, eine extreme, weniger formalisierende als ästhetisierende Distanz aufprägt und dabei gleichzeitig einen spannungslosen Fluss erzeugt, der mehr mit Halluzination und Somnambulismus als mit eindeutigen Gedanken, psychologischen Figuren oder separierbaren Begebenheiten arbeitet. Man wäre ungenau, würde man behaupten, diesem Roman, dem ersten des Autors, 1958 erschienen und von den meisten Kritikern, darunter Aragon, begeistert empfangen, würde die Beziehung eines 16-Jährigen zu seiner „bonne“ zu Grunde liegen, denn „Seltsame Einsamkeit“ ist kein Dienstmädchenroman.

 

Das eigentliche Thema ist die Verwandlung von Erinnerung in Sprache (Proust lässt grüßen), die Einräumung einer „inneren Erfahrung“ (Bataille), die sich so beschreiben ließe, als ob ein leicht versnobbter Jungvampir sich an den Zuckerstücken der Außenwelt schadlos hält und das Verdaute in schriftlicher Form an seine komplexe innere Matrix verteilt. Das liest sich zum Teil so, als ob man Proust dabei ertappen würde, Racine umzuschreiben, ersterer jedoch merken würde, dass er eher eine Selbstparodie als eine ernst gemeinte Aktualisierung des zweiten zustande gebracht hätte, die dann im verborgenen Schreibtisch landet – und als Einsprengsel in diesem Buch. Voilà: „Wir blieben einander an Lust nichts schuldig. Ich entdeckte, dass die Zärtlichkeit, die der Begierde beigemischt ist, sobald sie sich an die Einbildung wendet, sie mehr befriedigen kann als die Liebe, weil sie aufmerksamer ist und freier in der Wahl ihrer Effekte und Liebkosungen.“

 

Nicht selten darf der Leser den raffinierten Verschaltungen der inneren Instanzen des erzählten Ichs lauschen, ohne doch jemals in die unhöfliche Lage zu kommen, den Helden zu bemitleiden ob der entsetzlichen Verzweigungen der Liebespfade, die kein Partner jemals wird einsehen können. Dieser Roman ist also ganz und gar nicht sentimentalisch, er ist aber auch nicht intellektualistisch, und dieses Weder-noch, dieser starke Rückzug aus der Wirklichkeit, der kein semantisches Chaos nach sich zieht, verleiht diesem kleinen Roman dann doch einen Charme, der mehr ist als Nostalgie. Aber der Autor hat selber gemerkt, dass die Zeit, so zu schreiben wie Proust („commProust“, wie er später, in „Femmes“, witzelt), Ende der fünfziger Jahre mehr als ausgereizt war. Der Nouveau Roman war der Browning, den die Romanciers zogen, wenn das Wort Literatur fiel. Es machte Spaß, Camus und Sartre abzuschießen. Und Sollers machte mit. Wie er überhaupt in ziemlich vielem mitmachte. Im Spaß, im Ernst, jedenfalls immer als „Philippe Sollers“.

 

Später mochte er seinen Roman-Erstling nicht mehr, „Sollers“ beginne mit „Le Parc“, seinem zweiten Roman. Und doch will es scheinen, dass schon der ganze spätere Sollers in „Seltsame Einsamkeit“ angelegt ist, nur auf einem anderen sprachlichen Level. Dieses Syndrom „eigenwilliger Typ“ mit stark libertinistischer Verfassung, Hang zur Selbst-Mystifizierung, Rhetorisierung der Schrift, die er gerne als Avantgardismus verkauft, zugleich hyper-romantisch und supercool. Ereignis und Kontrolle. Mit der Zeit seines Schreibens leider immer mehr Kontrolle. Kontrolliert unkontrollierter Narzissmus. Ein Mann mit Feinden. Und einer großen Fangemeinde.

 

Dieter Wenk (07.04)

 

Philippe Sollers, Seltsame Einsamkeit. Roman, übersetzt von Hertha Balling, Frankfurt am Main 1964 (Fischer; Une curieuse solitude, Paris 1958, Seuil)