3. Juni 2004

Engel und Teufel in einem

 

Dieser 1914 veröffentlichte und zu Beginn der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts spielende Roman verdankt seine Berühmtheit einem einzigen Konzept, dem des acte gratuit. Unter einer unmotivierten Handlung lässt der Autor durch sein Autordouble Julius de Baraglioul (die Namen sind hier alle so seltsam) Folgendes verstehen: „Mit uneigennützig meine ich: unmotiviert, in sich selbst vollendet, dem Augenblicke immanent. Und das Böse (was man so als ,böse’ abstempelt…) kann ebenso unmotiviert sein wie das Gute.“

 

Wie schon in seinem wunderschönen frühen „Paludes“ und in den späteren „Falschmünzern“ belässt es Gide nicht dabei, einfach einen zweiten Autor einzuführen und ihn als Sprachrohr zu benutzen. Das Konzept wird umgesetzt, und das gleich zweifach, einmal im Rahmen des Romans, den der Leser liest, dann als internes Konzept des zweiten Autors, der überlegt, genau das zu behandeln, was – in diesem Roman ohne sein Wissen – schon in der Wirklichkeit (des „ersten“ Romans) passiert ist. Die an einer Hand abzählbaren Hauptfiguren, denen allen ein Romankapitel gewidmet ist, machen alle eine Wandlung mit, die jeweils mehr oder weniger psychologisch glaubhaft gemacht wird. Da gibt es den Gelehrten Anthimos Armand-Dubois, seines Zeichens Atheist, der zeigen möchte, dass alle tierischen und menschlichen Handlungen Effekte von Tropismen sind (also ganz schlicht monokausal begründbar durch Auffinden der Kraftquelle), und der wie durch ein Wunder von seinem Ischias geheilt wird und von da an an die Heilige Maria glaubt; der oben schon erwähnte Autor schreibt langweilige katholische Romane immer mit dem Ziel, in die Akademie aufgenommen zu werden, bis er auf den Gedanken kommt, einen Roman zu schreiben über einen jungen Mann, der eine Handlung begeht, die nicht begründbar, und, als kriminelle Handlung, auch nicht entdeckbar ist.

 

Diesen jungen Mann hat der Leser aber schon längst in der Figur des Lafcadio, eines Bastards, kennen gelernt. Lafcadio und der immanente Romanautor haben den gleichen Vater, sind also Brüder – nicht nur im Geist. Aber was der eine nur konzipiert als frivoles Spiel, führt der andere, Lafcadio, an mehreren Stellen aus, das eine Mal als rettender Engel, das andere Mal als Mörder, den die Lust überkommt, einen Menschen, den er gar nicht kennt, aus dem Zug zu werfen. Was erreicht Gide mit dieser Verdoppelung? Vielleicht so etwas wie die gegenseitige Relativierung der gegensätzlichen Positionen von „Tropismus“ und absoluter Freiheit, die dem acte gratuit unterstellt wird. Denn auf der einen Seite unterbricht Lafcadio mit seinem Mord die Intrige, die als gewitztes Spiel sich an das historisch beglaubigte Gerücht einer Entführung und Einkerkerung des damaligen Papstes Leo XIII. anhängt, mit dem ironischen Ergebnis, diese Intrige nicht zu Ende erzählen zu können und einen Kraftaufwand mit dem Vorstellen von Personen um diese Intrige herum betrieben zu haben, der nachträglich nicht zu rechtfertigen ist, da dieser ganze Aufwand ins Nichts verpufft; auf der anderen Seite wird Lafcadio durch das veränderte Geschehen mit Kalamitäten konfrontiert, die ihn selbst nicht unbelastet lassen, die an sein Gewissen, das er doch noch hat, gehen und ihn somit vor Entscheidungen stellen, die ihn das überdenken lassen, was er mit seinem Mord angerichtet hat. Das Spiel wird Ernst, die Motivationen kommen zurück und damit die auf ihn als Person zurückrechenbaren Handlungen.

 

Hier wird also doch noch einmal eine Person in den Abgrund ihrer Seelennot geworfen, obwohl das Konzept schon da wäre, diese Not mit der spielerischen Leere eines freien Aktes zu verabschieden. Die Rechnung geht nicht auf: So etwas kann man vielleicht immer noch am besten mit der von Gide ins Spiel gebrachten Technik der „mise-en-abîme“ zeigen.

 

Dieter Wenk

 

<typohead type=2>André Gide, Die Verliese des Vatikan, Reinbek 1955</typohead>