3. Juni 2004

Anfänge der Spaßkultur

 

Die Frau kennen wir noch nicht, die äußerst bescheidene Wohnung durften wir uns schon mal anschauen, und den Roman haben wir gerade gelesen. Er endet nicht mit einem Happyend, sondern mit einem Happybeginning – für den Icherzähler, der gerade ein erstes eigenes Appartement bezogen und eine wichtige berufliche Entscheidung gefällt hat: „Ich zweifelte nicht, dass ich mich in einem ungeschriebenen Roman bewegte. Ich sah auf mein Frühstück herunter und wartete auf das Aufzucken des ersten Wortes.“ Wenn der Leser an den Anfang des Buchs zurückblättert, merkt er, dass er gleich noch mal anfangen kann. Was er vermutlich nicht machen wird, aber das liegt nicht daran, dass das Buch schlecht wäre, das Gegenteil ist der Fall, sondern weil ihm schon beim ersten Lesen aufgefallen ist, dass es um den eigenen Text geht.

 

Ob dieser tatsächlich aufgeschrieben wird oder letztlich doch ungeschrieben bleibt, ist vielleicht gar nicht so wichtig, Hauptsache, man bewegt sich wie der Icherzähler in einem romanhaft romantischen Medium einer wie auch immer großen Welt. Dass Genazino nicht naiv in die Romantikfalle geht, macht schon der erste Satz klar: „Mit siebzehn trudelte ich ohne besondere Absicht in ein Doppelleben hinein.“ So serviert man Frühromantik und Gottfried Benn in einem ab. Und hat doch ein Motiv angeschlagen, welches erlaubt, sich auf beide beziehen zu können. Der junge Mann, um den es hier geht, Weigand, seinen Vornamen erfährt man nicht, ist gerade vom Gymnasium geflogen. Er ist ein bisschen sonderbar, scheint in einer anderen Welt zu leben, was dazu führt, dass ihn seine Mutter nicht nur zu Vorstellungsgesprächen zwecks einer Lehre begleiten, sondern sogar für ihn sprechen muss.

Wenn er auch wenig spricht, so schreibt er doch, bewirbt sich bei Zeitschriften, denen er, zum Teil mit Erfolg, eigene Texte schickt. Am Ende dieser Phase steht er mit zwei Jobs da: Er macht eine Lehre, und er ist eine Art Feierabendschreiber für ein Lokalblatt. Irgendwann fragt man sich als Leser, in welcher Zeit man sich bei all dem überhaupt aufhält. Es ist nicht die Jetztzeit (im Verlauf des Buchs bieten sich aber durchaus Parallellektüren an), es ist irgendeine im Grunde ganz fürchterliche Biedermeierei, die aber eher diskret-lakonisch vorgeführt wird, und früher oder später kann man sich als Leser auf eine Jahreszahl um 1960 einschießen, eine frühbundesrepublikanische Spaßkultur ist dabei, sich zu etablieren, und es gibt auch schon die ersten „Zornigen jungen Männer“, die das gar nicht gut finden, aber als Theaterstück ist auch dieser Zorn à la Osborne bürgerlich goutierbar. Nicht aber für den jungen Redakteur Weigand, für den der Journalismus ein Stock mit zwei Enden ist, aber nicht im zynischen Sinne eines Bel Ami, dem bei Maupassant Schreiben nur Mittel zum Zweck der Karriere ist, sondern im durchaus schmerzhaften Sinn, dass der Job es zwar mit sich bringt, dass man ziemlich schnell die gesellschaftliche Welt kennen lernt, zwischen eigener Erfahrung und Reaktion auf diese Welt und dem, was man darüber schreiben darf, aber ein himmelweiter Unterschied besteht.

 

Der junge Mann kämpft nicht gegen ein Kartell der Unterdrückten, sondern sieht sich eher fassungslos einem Kartell der Dumm-dumpfen gegenüber. Peter Alexander und Roy Black lassen grüßen, und Weigand gehört nicht zu denen, für die alles und noch der letzte Dreck zum unwiderstehlichen Camp wird. Vielleicht das Authentischste aus jener Zeit sind die beiden Liebesgeschichten, die Weigand unterhält und die auf einem so schmalen Grat laufen, dass Genazino den Abgrund nicht auch noch breit ausmalen muss, um dem Leser zu verstehen zu geben, dass hier so ziemlich alles schief läuft, was nur schief laufen kann. Besonders hier merkt man, dass Genazino kein nonchalanter Ironiker ist, dem als „Romantiker“ alles nur zum Anlass bloßen Erzählens und Kombinierens wird: Man lernt begreifen, dass die Spaßkultur nicht einfach so vom Himmel gefallen ist, sondern dass es da etwas gibt, was nicht aufhört, wehzutun: „Augenblicksweise ging mir auf, warum mir die Nachkriegszeit damals gefiel: Die Gesichter der Menschen waren voller eingestandenem Entsetzen. Es gab weit und breit niemanden, der von ihnen verlangte, dass sie fröhlich, erfolgreich, lustig, optimistisch oder sonst wie sein sollten.“ Um den Hamburger Hauptbahnhof herum sind hier und da gelbe neonbeleuchtete Tafeln angebracht, auf denen man, während man im Zug sitzt, lesen kann: „die eigene Geschichte“. Ja, genau darum geht’s, hier, und da, und da auch.

 

Dieter Wenk

 

Wilhelm Genazino, Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman, München, Wien 2003 (Hanser)

 

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