20. April 2004

Verloren im Zeitwind

 

Dieser ganz erstaunliche, in den frühen 30er Jahren geschriebene Roman Platonows (1899-1951) ist Fragment geblieben. Das ist sicherlich kein Zufall, denn erstens hätte er selbst „vollendet“ nicht erscheinen dürfen, zweitens stellte sich für den Autor die Revolution in ihrem weiteren Verlauf, hier der 30er Jahre, als etwas dar, was nicht zum Aushalten war.

 

Platonow bewegt sich mit seinen an einer Hand abzählbaren Figuren auf der Höhe der Zeit. Es sind Überflieger, die das Wissen der Gesellschaft repräsentieren, ihre hohen Ideale vertreten, wissen, was sie ihrer Stellung verdanken und ihre gesamte Person in den laufenden Prozess investieren. Sie sind begeistert von der angebrochenen Zeit der Erlösung und Perfektionierung und sind nicht korrekt als Technokraten zu bezeichnen, als die sie uns heute erscheinen mögen. Sie machen keinen Unterschied, das ist ihr Enthusiasmus.

 

Doch auch sie machen Erfahrungen, mit denen sie nicht umgehen können. Auf die sie nicht vorbereitet sind. Scheinbar ganz einfache wie die Begegnung von Mann und Frau. Aus der sich, in großem Abstand zum gesamtgesellschaftlichen Prozess, Dinge ableiten, für die es keine Werkzeuge gibt, mit deren Hilfe sich ein Problem ein für alle Mal beseitigen ließe. Platonow braucht gar nicht auf die Vokabel des Bürgerlichen zurückzugreifen, mit oder ohne Häme, um auf die Ungelöstheit der geschlechtlichen Beziehung aufmerksam zu machen. Verstanden als Relikt, dessen man sich noch in viel größerem Bemühen entlegen müsse. Die Figuren merken eigenständig, dass sie da an etwas stoßen, was keine Stalinsche Devise (Alle Macht der Technik, oder: Alle Macht den Kadern) beseitigt.

 

Die junge Moskwa merkt, dass sie sich nicht an einen einzigen Mann binden kann. Verehrer verlieben sich reihenweise in sie und gehen daran zu Grunde. Aber Moskwa ist keine femme fatale. Wie der Arzt Sambikin, der auf der Suche nach einem ominösen Lebensstoff ist, den er ausgerechnet bei gerade Gestorbenen finden will, und der Techniker Sartorius, von dem man nicht sagen kann, ob er sich mit seiner Entscheidung, für einen Betrieb Waagen herzustellen, nicht wissenschaftlich degradiert, oder gerade damit den revolutionären Prozess in Gang hält, so ist auch Moskwa und gerade sie eine Person, die immer auch mit einem inneren Partner, der oft ein Feind ist, zu kämpfen hat. Mehr, als diese Kämpfe in Worten darzustellen, braucht es nicht. Platonow führt an keiner Stelle einen externen Standpunkt ein, an dem sowohl die Entwicklung der Figuren als auch der erreichte Ort des revolutionären Kampfes sich messen ließen.

 

Platonow arbeitet alles immanent aus den Figuren heraus, und das ist sehr spannend zu lesen, ohne dass es irgendwie um einen Plot ginge. Man fühlt sich als Leser wie vor einem betrunkenen Sternbild, dessen einzelne Sterne ständig versuchen, das Bild zu verlassen. Aber niemand könnte sagen, auch der Autor nicht, wohin die Reise gehen soll, anstelle der mehr oder weniger losen Verankerung. Vom eigentlichen Helden der Revolution, dem armen, hungernden Volk, erfährt der Leser nur durch die desillusionierenden nächtlichen Streifzüge der auserwählten Helden und Nicht-mehr-Helden, die nicht schlafen können, weil sie entweder nicht wissen, wohin mit ihrer Energie, oder aber an der gigantischen Armut und der Langsamkeit der zu ändernden Natur, die sich nicht gängeln lässt, zu Grunde gehen. Es geht nicht weiter im Text. Das ist die Botschaft, die damals unerhört und unaussprechlich war und die erst heute ihre Adressaten findet, die aber mit nichts mehr beschäftigt sind, als die Armut des Fragments im schönen Schein gleich wieder untergehen zu lassen.

 

Ein beeindruckendes Buch, eine fast Scham erzeugende schöne Sprache.

 

Dieter Wenk

 

Andrej Platonow, Die glückliche Moskwa, Berlin 1993 (Volk und Welt)