15. April 2004

Familien unter Push und Pull

 

Inwiefern Partnerwahl und Familienkonstellationen freiwillig oder fremdbestimmt sind, behandelt Wolf Wagner in seinem Buch „Familienkultur“ anhand der Gegenüberstellung unterschiedlichster Kulturen. Was in unseren westlich-europäisch geprägten Kulturkreisen als eine „anständige“ Familie gilt, kann in anderen Ethnien Tabus brechen, als unsittlich und verwerflich gelten.

 

Familienkulturen bildeten sich, so Wagner, in erster Linie der Reproduktion wegen. Das Großziehen der Kinder solle und müsse in einem geschützten Rahmen stattfinden, welcher materielle Versorgung und gesundes Heranwachsen gewährleistet. Die Vielfalt der Gestaltungsformen solcher „Aufzuchtsmodelle“ ist so beeindruckend wie verwirrend. Mit dem Garten Eden vergleicht Wagner die Spielwiese der Möglichkeiten, die Ethnien sich suchten, um eine möglichst sichere und effiziente Reproduktion ihres Stammes zu ermöglichen.

 

Da es möglich sei, in Frieden und Harmonie zu leben, stellt sich die Frage, warum Aggressionen in allen Kulturkreisen vorzufinden sind und warum Familienkulturen überhaupt dem Wandel unterworfen sind. Dies begründet der Autor mit zwei wesentlichen Elementen: dem Push- und dem Pull-Faktor. Push für die „Notwendigkeit, Schaden abzuwenden“, und Pull für die Suche nach Anerkennung, sprich „Prestige“. Familienbanden werden somit neu geknüpft, wenn es die wirtschaftliche Lage fordert. Familienbanden reduzieren sich auf einen rein emotionalen Rückhalt, falls materielle Unabhängigkeit besteht, und über andere Elitegesellschaften, die meist höheres Ansehen genießen als die Herkunftsfamilie. Durch diese Mechanismen würden sich Familiennetze in unserer westlichen Gesellschaft zunehmend ausdünnen und geschwächt werden.

 

Inwiefern wir genmanipuliert sind in unserem Handeln oder kulturgeprägt, ist eine weitere Kernfrage in Wagners Buch. Die Untersuchungen zu eineiigen Zwillingen, die in unterschiedlichen Städten aufwuchsen und im späteren Vergleich unglaublich viele Ähnlichkeiten aufwiesen, liefern angeblich einen Beweis, dass Gene sich gegenüber Kulturen durchsetzten.

 

Viele interessante Denkanstöße und Einblicke in Gesellschaftssysteme liefert das Bändchen. Bei dem geringen Umfang, den die Wissen-3000-Reihe der Europäischen Verlagsanstalt zur Verfügung stellt, kann der Autor nur einen groben Einblick in dieses brisante Thema liefern. Zu diskutieren gäbe es hier viel. Besonders entsteht der Wunsch, bei einigen Fragen in die Tiefe zu gehen. Genügt beispielsweise ein Beispiel, um die Gentheorie hier zu erörtern? Was wäre geschehen, wären die Zwillinge in gänzlich unterschiedlichen Kulturen aufgewachsen? Dann hätten sie wahrscheinlich nicht eine Ehefrau mit gleichem Namen gefunden, sondern einer wäre vielleicht ein keuscher Stammesführer geworden. „Familienkultur“ wirkt letztlich wie ein An- und Aufreißen eines Themas, um es dann wieder jedem selbst zu überlassen, wie er seine Stellung im Gesellschaftssystem definiert.

 

Claudia Mechlenburg

 

Wolf Wagner: Familienkultur. Europäische Verlagsanstalt (Hamburg) 2003. 95 Seiten. ISBN 3-434-46185-X. 8,60 EUR