18. März 2004

Keine Beitrittsgeschichten

 

Dorfgeschichten als Sonderform der Idylle sind sicherlich nicht jedermanns Geschmack; auf jeden Fall darf man ihnen nachsagen, dass sie intellektuell nicht überfordern. Was aber passiert, wenn die Dorfgeschichte ihr zentraleuropäisches Kernland Schweiz verlässt? Wenn man ins „Jenseits“ gerät, in die Türkei? Und zwar nicht als wohlumsorgter Tourist, sondern als totaler Ignorant dorfmagischer Infrastruktur?

Es ist schön, dass Feridun Zaimoglu den Leser nicht ganz allein lässt, sondern Figuren in seine Geschichten einbaut, die das Fremdeln des Lesers am eigenen erzählten Leib erleben wie zum Beispiel in der Erzählung „Bettelbrot“. Was wir durch ein solch eingelagertes Nichtverstehen vermittelt bekommen, ist vielleicht, dass es bei manchen Geschichten schlicht und einfach nichts zu verstehen gibt, weil die Logik hier an Formen grenzt, die etwa als Ritus ein Verstehen gar nicht fordern. Man ist entweder drin oder draußen.

 

Die meisten dieser „jenseitigen“ Geschichten lesen sich eher wie dunkle Märchen. Zaimoglu hat seine zwölf Erzählungen in die zwei Bereiche „Diesseits“ und „Jenseits“ aufgeteilt. Die ersten sieben finden im Diesseits, sprich in Deutschland statt (Hamburg und Berlin), die übrigen fünf im Jenseits, in der Türkei. Was beide Abteilungen gemeinsam haben: Es herrscht eine fast penibel zu nennende Konkretheit. Die Emanzipation des Details ist manchmal schmerzhaft. Man muss das Lesetempo stark herunterfahren, der Realismus Zaimoglus ist unnachgiebig.

 

Es ist aber nicht mehr der durch das Ornament und die Metapher hindurchgegangene Realismus wie bei „Liebesmale, scharlachrot“. Der Autor hat sich gewissermaßen entorientalisiert. Die Verwirrung, die auch jetzt noch zu spüren ist, geht nicht vom Concetto aus, sondern von einer kaum merklichen Verschiebung von Orten und Figuren. Das macht die Geschichten nicht geheimnisvoll, wohl aber rätselhaft. Und das ist auch das Wichtige an ihnen: Sie sagen uns, dass nicht alles dazu da ist, verstanden zu werden. In diesen auch gar nicht psychologisch erzählten Geschichten finden wir eine ganze Reihe von Figuren, deren Kern ein empathisches Nachvollziehen ausschließt. Eine Grenze ist erreicht, mehr oder weniger schnell, hinter die weder andere Figuren, noch der Erzähler oder gar der Leser gelangen. Und diese Unantastbarkeiten sind häufig skandalös, jedenfalls für den „diesseitigen“ Leser.

 

Zaimoglu führt diese Einstellungen aber nicht nur einfach vor, sondern inszeniert diese Grenze mittels einer labyrinthischen Darstellung als Weg zu dieser Fremdheit. Wer sich dabei so viel Mühe gibt wie dieser Autor, schreibt natürlich keine plumpe Fingerzeig-Literatur. Er schreibt überhaupt keine kritische Literatur im Sinne von: Das ist gut und das ist schlecht.

Zaimoglu hat ein sensationelles Organ für ethnologisch unvertraute Felder, die er, besonders im zweiten Teil, an anderen Unvertrautheiten sich brechen lässt. Es gibt hier keinen Fremdenführer. Die Methode ist direkt und brutal. Man liest kein romantisches „Indisches Nachtstück“. Aber will man wirklich zu Schweizer Verhältnissen zurück?

 

Dieter Wenk

 

Feridun Zaimoglu: Zwölf Gramm Glück, Kiepenheuer und Witsch 2004, 17,90 Euro