6. März 2004

Nanorobot auf Börsengang

 

Es sind jene Tage in den 90er Jahren, da das Jahrzehnt der wirtschaftlichen Beschleunigung vom rasenden Lauf in den freien Fall übergeht. Kurz vor der Jahrtausendwende also, als ein Investor einem Vorstandschef an der Hotelbar noch Sätze wie diesen zuraunen konnte: „Wer spricht von Produkten? (...) Wir brauchen Geschichten, Storys, die die Fantasie anheizen, die Gier, die Angst, etwas zu verpassen. Das zählt an der Börse.“

Hans Graf von der Goltz kennt diese Zeit gut. Lange war er die rechte Hand von Herbert Quandt, der die Quandt-Gruppe zum größten Industrieimperium Deutschlands ausbaute. Als Mitglied in zahlreichen Aufsichtsräten des Landes erlebte von der Goltz live mit, was er nun in seinem Roman erzählt: Die Wolfer AG, ein durchaus lebensfähiges Unternehmen soll zerschlagen werden. Der Großaktionär – natürlich in Frankfurt ansässig – findet die schnellen Gewinne aus den Verkäufen der einzelnen Teile attraktiver als das moderate Wachstum des Ganzen.

Kurt Anderland, langjähriger Vorstandschef der Wolfer AG, sorgt sich hingegen weniger um den Shareholder Value als „um Menschen, um Schicksale. Sachfremde Gedanken, zugegeben“. Er ist die gute und dadurch die tragische Seele dieses Buchs über das Zeitalter der Gier: loyal gegenüber den Idealen des verstorbenen Unternehmensgründers und selbst für eine Abfindung von 20 Millionen Euro nicht bereit, den eigenen Namen für das Zerpflücken der Wolfer AG herzugeben. Anderland, tatsächlich das Relikt aus einem anderen Land, tritt zurück.

Weil erst das Böse den Guten zu solchem macht, lässt von der Goltz seinen Helden einen zwielichtigen Investor namens Treuer begegnen, der wenig mit Unternehmenskultur und viel mit schnellen Gewinnen im Sinn hat. Gemeinsam, Treuer als Geldgeber, Anderland wiederum als Vorstandschef übernehmen sie den zukunftsträchtigen Teil der Wolfer AG, bringen ihn als viel versprechenden Nanotechnologiekonzern an die Börse und wundern sich, dass auch kühne Prognosen dem Höhenflug des Aktienkurses nicht gerecht werden. Obwohl doch niemand weiß, wann die revolutionären Nanoroboter einsatzbereit sein werden.

Die Vertrautheit dieser sich zum Krimi auswachsenden Geschichte macht „Anderland“ zum Poproman des New-Economy-Hypes. Während Kracht und Stuckrad-Barre in ihren frühen Romanen das Aufwachsen der um 1970 Geborenen konservierten, verpackt von der Goltz die Wirtschaftsteile anno 1999 in eine literarische Form.

Nicht die Rahmenhandlung ist es, die in „Anderland“ interessiert, die haben wir alle dutzendfach in der Zeitung gelesen. Spannender sind die Szenen hinter den Kulissen. Wenn etwa der alte Wolfer den angehenden Vorstandschef Anderland in einer langen Nacht sein Leben und sein Unternehmen erklärt. Oder wenn Anderland beim Grübeln über die Gründe für die Zerschlagung der Wolfer AG nach Orientierung sucht und dabei erkennen muss, dass richtig und falsch heute nur noch eine Frage des Standpunkts sind. „Es kam nur darauf an, die passende Perspektive auszusuchen und eine Begründung auszuformulieren, der niemand zu widersprechen vermochte.“

Der Versuch, die sich überstürzende Handlung der rationalen unternehmerischen Seite – zwischen Anderlands Rücktritt und dem Börsengang von Nanorobot scheinen nur Wochen zu liegen – mit der irrationalen aber doch entspannt wirkenden Affäre Anderlands mit einer 30 Jahre jüngeren Frau zu konterkarieren, ist nur bedingt erfolgreich. Zu vage bleiben die Beweggründe der Frau, zu blass das Wesen der Beziehung.

So bleibt „Anderland“ ein Roman, in dem die unternehmerische Erfahrung seines Autoren stellenweise aufblitzt, der eine wirtschaftliche Zäsur in elegant lakonischen Stil einfängt und der doch schon vor der Lektüre so vertraut wirkt, dass selbst die großzügig bedruckten 210 Seiten langatmig werden.

 

Gregor Kessler

 

Anderland, Hans Graf von der Goltz, Berliner Verlag, 19 Euro, 210 Seiten