30. März 2022

Streifzüge



„Herr Baum, Sie sollten einmal den biederen Deutschen, die nicht genug Sonne auf ihre gepflasterten Terrassen bekommen können, bis ihre Haut krebsrot wird, und den Schatten spendenden Baum vorm Fenster hassen, ordentlich die Leviten lesen. Auch den unleidlichen Laubentfernern mit ihren Gebläsen, die jedes verwehte Blättchen auf ihrem Rasen hassen, den gewissenlosen Baumabsäblern im Öffentlichen Dienst, die in Bäumen grundsätzlich eine Gefahrenquelle für parkende Autos sehen.“ Ursula Krechels Haltung in ihren Essays ist eindeutig. Herr Baum ist Eduard Otto Baum, ein kasachischer Stadtbegrüner vor über hundert Jahren im Land der Äpfel. Eine Region, die es Krechel angetan hat. Ihre Schriften in Gehen. Träumen. Sehen. Unter Bäumen. sind Streifzüge, Spaziergänge durch Interessensgebiete. Geordnet nach den titelgebenden Rubriken, beschäftigt sich ihr Band, bei Jung und Jung erschienen, mit Literaturen, eingesammelter Traumdeutung, Kurt Biedenkopfs Tagebüchern (für Hunderttausende Bundes-Euro druckgelegt & bei Staatsbesuchen verschenkt), ein wenig bildender Kunst, analogen Begegnungen sowie schließlich jenem letzten konkreten Reisebericht. Wo Krechel immer zugänglich, freundlich, aufmerksam formuliert, bleiben ihre Aufsätze zu Kunst- & Quellenbereichen weniger haften, ebenso wie zu anderen Texten, deren Auswahlzusammenhang bleibt individuell – am prägnantesten sind Krechels Bemerkungen zu Katherine Mansfield und den Schwestern Brontë. Eher allerdings schießt Leselebendigkeit ein, wenn sie sich über Begegnungen mit Brinkmann, Berlin-Friedenauer Szene um Johnson etc. oder jene Reise ins Apfelland, mit weitschweifigen Links zu Roger Deakin, Korbinian Aigner, Michael Hamburger auslässt. Speziell Krechels versuchtes Interview mit Brinkmann, der sich bockig, machohaft, launisch gibt, gelingt ihr ebenso anschaulich wie die Anmerkungen zu Uwe Johnson, speziell dessen Genauigkeitstrinkergemüt – ein Porträt der Friedenauer Szene in den 60ern, der auch Krechel angehörte.
Der über 400 Seiten starke Band mit dem Coverapfel liegt gut in der Hand & überrascht mit einigen fein ausgewählten Abbildungen, die zuvor oder im Anschluss beschrieben werden, wie Delaunays Les coureurs, als würde man geführt und bekäme schließlich die Gelegenheit zum eigenen Augenschein. Alles in allem herrscht Leichtigkeit bei Ursula Krechel, allerdings zum Glück keine unkritische – im Gegenteil, wie auf einem Spaziergang, ab & an von Realität bedrängt oder „aufdringlicher Nähe“.

Jonis Hartmann


Ursula Krechel: Gehen. Träumen. Sehen. Unter Bäumen., Jung und Jung, Salzburg 2022

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