27. Dezember 2021

da raus, drüber, beugt sich, hängt



Der stets veröffentlichungsscheue Dichter Rainer René Mueller gehört zu den großen zeitgenössischen Stimmen im deutschsprachigen Raum, doch bis auf ein dicht kuratiertes roughbook im Jahre 2015 sowie einem späteren Band von 2018 in der Edition a o u e y gab es Muellers Gedichte praktisch nicht, lediglich als verstreute Kleinstauflagen oder nur im Netz zu lesen. Das ist jetzt anders, dank Herausgeberin Chiara Caradonna ist in einem fast feudalen Band bei Wallstein das gesamte dichterische Werk von Rainer René Mueller erschlossen – mitsamt Kommentaren in die weit verlegten Quellenräume bzw. als ein eigenes Set Fingerzweiglein ins Post & ante der Texte.


Mueller, der ein ambivalentes Verhältnis zum sogenannten Literaturbetrieb hegte und viele Jahre als Galerist, Museumsdirektor & Verfasser essayistisch-kunsttheoretischer Texte arbeitete, zeigt sich in diesem Band als profilierter Wortkünstler, dessen früheste Gedichte von den 1970ern datieren. In einer interessanten Rückwärtsbewegung stellt das Herausgeber:innenduo Caradonna und Leonard Keidel die Texte zusammen. Es wird augenfällig, dass Muellers aktuelle Gedichte zu den stärksten gehören. Das Maß einer ständig gesteigerten Komplexität, insbesondere in der zur Partitur gewordenen Interpunktion (die jedes Gedicht zu grafischer Expressivität treibt) bei erstaunlicherweise gleichzeitiger Reduktion und Verkürzung von Syntaxbögen, Ansprachen & Bildvollständigkeit, ist enorm, ihr Experimentalgehalt kontinuierlich gewachsen.

„[...]
der Hieronymus-Dreh oder das Auge
im Aeroplan oder: Semiotik
-tik, -tik. Fahren schön,

Weinberg schön, -öhm“

Auch wenn die frühen Gedichte bereits gut gearbeitet sind & Muellers spätere Meisterschaft der Genauigkeit erahnen lassen, orientieren sich diese Texte noch an damaligen Stimmen (Celan, Domin, Eich, Ausländer etc.), führen aber spätesten ab dem Band LiedDeusch von 1981 den eigenen Durchbruch herbei, dessen Urknallwellen bis heute ihre Fragmente zu werfen scheinen. Muellers Sprachkosmos, die bildkünstlerisch-musikalischen Versatzstücke zusätzlich zur erwachten Mehrsprachigkeit (Englisch, Französisch, Jiddisch usf.) kombinieren sich mittels genauer Erfassung wie Durchleuchtung von aufgeschnappten (Alltags-)Sprachfetzen & selbst erlebten Antisemitismen sowie (orts-)geschichtlichen Einschrieben weiter & weiter fort. Diese Gedichte stehen Notationen aus der Welt Derridas oder Meschonnic nahe, vergrübeln jedoch nicht, sondern klingtönen in verschiedene Richtungen, gleichzeitig, bewegen sich auf Layern, die man nie zu Gesicht bekommt – zu zerschossen die Schriftskulpturen, -steine – durch den zeitgenössischen Raum. Mueller spürt Verwandtschaften nach.


Wie eine Setzung mutet das Ende des letzten Gedichts im Band an, das damit sein frühestes (’71) ist:

„Keine Wendung
Du wirst schon von Helle beatmet“

Es ist zu hoffen, dass mit diesem Band endlich eine breitere Anerkennung für das Werk Rainer René Muellers in Gang gesetzt wird. Sie ist überfällig.


„Unauflösbar verbunden mit Drüben, unauflösbar. Gedichte kann ich nur schreiben im Vertrauen auf das Versprechen, das Gedichte anderer mir gaben, das Versprechen in der réécriture, dass die Gegenwart des Verbrechens in der Geschichte, im Großen wie im Kleinen, in die Rettung einer sprachlichen Gestalt übertragen werden kann, nur – keiner kann im Zustand der Rettung allein überleben.“

Jonis Hartmann

 

Rainer René Mueller: Gesammelte Gedichte, Wallstein, Göttingen 2021

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