4. November 2021

Didaktik des deutschen Kolonialismus



Eine ‚Kritik‘ im Buchtitel verspricht einen umfassenden Wurf mit Positionen, die gegen den Strich gebürstet sind. Egal ob als Kritik der ‚reinen‘ oder der ‚schwarzen Vernunft‘ (Kant, Mbembe) oder – wie hier – ‚des deutschen Kolonialismus‘: Sie darf mit dem Mut auftreten, den geltenden wissenschaftlichen Einsichten zu widersprechen und ihre in medienöffentliche Diskurse, Museen und Schulen  Medien durchgesickerten Annahmen aufs Korn zu nehmen.

Denn, so Henning Melber, Politikwissenschafts-Professor und langjähriger Forschungsdirektor mit Afrika-Fokus, und Wolfgang Geiger, promovierter Gymnasiallehrer an der Lehrkräfteakademie Hessen: Der deutsche Kolonialismus ist von den akademischen Disziplinen nicht immer mit der nötigen Ausgewogenheit ausgeleuchtet worden, was die involvierten – ihn vom Zaun brechenden und die in ihn hineingezogenen – Akteur*innen betrifft. Es ist Melbers und Geigers Verständnis von (und in) Kritik des deutschen Kolonialismus, dies aufzuspießen als Monitum an den häufig blickarretierten, weil lediglich die Sicht der deutschen Kolonisatoren berücksichtigenden Verfahren der heutigen Vergangenheitswissenschaften und ihrer Abnehmer in den Bildungsinstitutionen. Sie tun das nicht alleine, sondern haben sich für den ersten, grundlegenden Teil ihres Buchs Wissenschaftler*innen und für den zweiten, leider kürzeren Teil Akteur*innen an die Seite geholt, die die Praxis in Museen und Schulen beleuchten, um auszumessen, wie man besser (und) differenzierter auf die Dinge blickt.

Dabei erstellen Geiger und Melber zunächst den terminologischen und zeitlichen Rahmen des deutschen Kolonialismus. Kurz war der, verglichen mit den durées der imperialistischen Landnahmen und Beutenahmen anderer europäischer Mächte, nämlich dreieinhalb Jahrzehnte von 1883 bis 1919; er besaß aber lange Wirkung. Eine dieser Langzeitwirkungen: die Mitte 2021 und damit erst bei Drucklegung des Bands verkündete deutsch-namibische Vereinbarung, in der die Bundesrepublik den Genozid an den Ovaherero und Nama (1904-1908) „als einen zutreffenden Tatbestand ‚aus heutiger Perspektive‘ an[erkennt]“ (S. 28).

Ein überzeugendes Umdenken und eine souveräne offizielldeutsche Erinnerungspolitik hätte verzichtet auf den Passus von der ‚heutigen Perspektive‘ (1904 machte sich die Welt noch keinen Begriff von ‚Völkermord‘ und die deutschen Schutztruppen schufen für das Afrika des Imperialismus einen Präzedenzfall), aber gut. Neben einer Kritik an der weicher gespülten Hartleibigkeit auf gegenwartsdeutscher Seite setzen Geiger und Melber gleich zu Anfang eine zweite Hauptnote: dass sich immerhin inzwischen etwas bewegt. Diese Key Note durchzieht auch die Auslassungen, die nach einem weiteren Überblickskapitel von Henning Melber folgen.

Ein halbes Dutzend räumlich voneinander getrennter, mit verschiedenen Zugriffbegründungen versehener und trotzdem durchgehend mit physischer Gewalt annektierter und aufrechterhaltener deutscher Kolonien gab es in Ostafrika, Togo, Kamerun, ‚Südwestafrika‘, der Pazifikregion und Jiaozhou (‚Kiautschou‘). Jeder dieser Kolonien ist ein vorkonfektionierter, aber durchaus unterschiedlich ausgefüllter Abschnitt gewidmet. In allen spielt – neu und im besten Sinn kritisch gegenüber zahlreichen Vorgängerdarstellungen – der Widerstand der Kolonisierten eine Rolle, der mit dem Begriff ‚Aufstand‘ einen misnomer mit seinerseits einer longue durée, einer langen Lebenszeit bis in die wissenschaftsdiskursive Gegenwart, aufgeklebt bekam. Aus der Warte der Kolonisierten waren es nämlich Kriege: onjembo nul-vier, der Krieg der vielfach auch in die deutsche Sprache gezwungenen Herero gegen die Deutschen Neunzehn-null-vier, Majimaji in Ostafrika und die Yihequan bzw. Faustkämpfer für Frieden und Gerechtigkeit (‚Boxer‘), die Wolfgang Geiger im Beitrag über das „‘Pachtgebiet‘ Kiautschou‘“ in einen Zusammenhang mit den Maji-Maji stellt (S. 130).

Dass die Ausführung dieser sechs Kapitel nicht einheitlich gerät: na ja. Mal wird der Terminus ‚Häuptling‘ kritisiert als zumindest unbeholfener Diminutiv, durch den heute eine Überlegenheitsanmutung ähnlich des Kolonialdünkels von einst spricht – und mal wird er in exakt dieser Weise, nämlich auf der Ebene der Darstellung durch den Beiträger verwendet (S. 114).

Zweimal reflektieren und ergänzen Nachgeborene der Kolonisierten von einst als Ko-Autor*innen die Ausführungen der Experten; sie bringen damit eine – ihre – wichtige, weil korrigierende Stimme ein. Mnyaka Sururu Mboro zählt die Verwendung des ‚Aufstand‘-Begriffs an und zieht ihn damit kritisch in die Gegenwart: „Manche nennen es ‚Majimaji Aufstand‘. Aber ‚Aufstand‘ oder auch ‚Rebellen‘ finde ich eine beleidigende Wortwahl. Jemand, der versucht, sein Land vor Eindringlingen und Unterdrückern zu schützen, wird Rebell genannt?“ (S. 107). Und der Herero-Aktivist Israel Kaunatjike prangert an, dass Kolonialismus neben Landnahme und –raub durch windige Vertragsklauseln auch die Missachtung kultureller (Selbst-)Verständnisse und ihre Ersetzung durch nordglobale Standards bedeutete: Land wurde plötzlich besessen, sprich zu individuellem Besitz und Eigentum, statt in kollektiver Eignerschaft zu sein: „Es gehörte der Gruppe, keinen Einzelpersonen. Rechtstitel auf Land als Privatbesitz wurden von den Kolonisatoren einseitig vollstreckt“ (S. 52).

Die Zweitstimmen, die eigentlich Erststimmen vertreten, sind Teil der Kritik, die den deutschen Kolonialismus und seine bisherige Behandlung sichten: gut und wichtig ist das, auch wenn Israel Kaunatjike für die Belange der Nicht-Herero im heutigen Namibia herhalten muss bzw. sie artikuliert und das, vorsichtig formuliert, eine Überforderung darstellt. Es gibt sie in dieser Idealversion sicher nicht, die eine Stimme der Nachfahren der Unterdrückten und Ermordeten im heutigen Namibia.

Diese Stimmen sind zugleich leider nur: zwei Stimmen. Sie fehlen als jenseits des wissenschaftlichen Duktus kenntliche in den Beiträgen von Albert Gouaffo und Richard Tsogang Fossi über Kamerun, das kleinteiliger als das damalige Deutsch-Südwestafrika über den perfiden Umweg von proto-kolonisatorischen ‚Schutzverträgen‘ und ab 1885 von anderen Kolonialmächten ratifiziert den Deutschen zufiel, und Togo von Dotsé Yigbe, der durch den Blick auf koloniale Söldnertruppen und das dufia-Wesen Kontinuitäten und „ominöse Weichenstellungen für aktuelle postkoloniale Machtstrukturen“ (S. 81) aufzeigt. Fehlanzeige auch bei Geigers Ausführungen zu Jiaozhou und den Ausführungen über die „[d]eutschen Südsee-Kolonien“ „an der Peripherie“ des Wiener Historikers Hermann Mückler. In seiner Kritik der Afrikabilder in neueren Schulbüchern macht Geiger später einen Punkt, der entsprechend gewendet auch auf das von ihm mitherausgegebene Buch zutrifft; seine Diagnose eines „Perspektivwechsel[s]“, der den Stimmen der Kolonisierten „und ihren Völkern auch eine aktive Rolle im Geschehen zumisst“, bleibt unvollendet und deckt nicht alle(s) ab: „Dabei blieb dies hier jedoch auf Südwestafrika [und Ostafrika] fokussiert und fand sich nicht in entsprechenden Passagen zu anderen Ländern/ Kontinenten“ (S. 148 f.).

Okay, das war jetzt ein wenig spitz. Wolfgang Geiger sollte es auch am wenigsten treffen, der im praxissichtenden Teil „Erinnerungskultur und Vermittlung“ in zwei Beiträgen eine Bestandsaufnahme der Thematisierung des deutschen Kolonialismus – und den beharrlich kolonialzeitklebrigen Afrikabildern und -stereotypen – in Schul-Unterrichtswerken von heute vorlegt.

Seine Sichtung von Geschichtslehrbüchern für die Sekundarstufe ist der Kulminationspunkt des gesamten Bandes oder, um in der schulwissenschaftlichen Begrifflichkeit zu bleiben: der komplette erste Teil des Bandes ist ein einziges Propädeutikum für diesen voraussetzungsreichen, akribischen und vor allem den neun Unterrichtswerken ausgewogen und fair begegnenden Beitrag. Um Geiger nicht nur selbst, sondern auch das von ihm Belobigte zu erwähnen: Vor allem das Kursbuch Geschichte Qualifikationsphase (Cornelsen 2017) akzentuiert den Widerstand der Kolonisierten „von Anfang an“ – was gegenüber dem Narrativ der sich zunächst willig einlassenden indigenen ‚Vertragspartner‘ „einen Unterschied in der Wahrnehmung und Bewertung ausmacht“ (S. 176) – , und enthält „Stimmen von Historikern aus den betroffenen Ländern Tansania und China“ (S. 175).

Flankiert wird die Lehrwerkanalyse von zwei Beiträgen, die bei aller Kritik Konstruktives zu berichten haben. Die Berliner Initiative ‚Kolonialismus im Kasten‘ referiert den als problematisch empfundenen Ausstellungsabschnitt des Deutschen Historischen Museums, der auf Betreiben der Initiative 2015 modifiziert wurde und nun auch zeitgenössische Artikulationen der Kolonialisierten enthält, ohne allerdings deren und die deutschkolonisatorischen Verflechtungsdiskurse kenntlich zu machen. Und aus der Unterrichtspraxis berichtet Frank Schweppenstette über die geschichtsdidaktischen Potentiale eines 2001 angefertigten Wandgemäldes in Windhoek, Namibia, das die etablierten und bis heute wirkmächtigen Narrative rund um das 1912 errichtete Reiterstandbild kommentiert und konterkariert.

Stichwort (Geschichts-)Didaktik und als Fazit: Der bei Brandes & Apsel erschienene Band referiert zwar keine taufrischen, dafür in großem Detail dargelegte und vor allem notwendige Positionen: auch von denen, die in der bisherigen Historiographie (zu) oft nicht zu Wort kommen. Am Ende ist die Kritik keine fundamentale, sondern eine ausgesprochen umsichtige, die auch jüngere Entwicklungen in deutschen postkolonialen Vermittlungskontexten – Museen und vor allem Schulen – in den Blick nimmt. Diese Sichtung ist ein Grund- und Meilenstein, und die Kritik aus der Gegenwart schreit förmlich danach, ergänzt zu werden durch eine ausführliche(re) Didaktik des deutschen Kolonialismus.

Bruno Arich-Gerz

 

Wolfgang Geiger, Henning Melber (Hrsg.): Kritik des deutschen Kolonialismus. Postkoloniale Sicht auf Erinnerung und Geschichtsvermittlung, Frankfurt/M: Brandes & Apsel, 2021

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