27. Oktober 2021

Eranderung wie Erselbstung



Das Besondere an Werner Hamachers Schreiben war ihre Lyrikgeneigheit. Obwohl Wissenschaftler, Literaturwissenschaftler, um präzise zu sein, als solcher hauptsächlich der Philosophie der Dekonstruktion nahe, war Hamacher praktisch nicht in der Lage, Gedanken auf tradierte wissenschaftliche, i.e. objektiv egolose & nachvollziehbare Weise niederzulegen, sondern im Gegenteil verlor sich in Manieriertheit & „Lust am eigenen Text“. Es ist waschechte Literatur, auch wenn Hamacher das vielleicht nie erkannt haben wollte. Damit steht er natürlich nicht allein, sondern in einer langen Linie von Leuten, deren Schreibe sich ihren Gedankenwelten derart widersetzte (was Hamann selbst den anderen allerdings vorwirft, z.B. Hegel, der „eher verdecke“, aber das Richtige meine) & eine genuin abgerungene Prosa (oder Protolyrik) schuf – besonders Derrida, auf den sich Hamacher vor allen beruft. Doch nicht nur Derrida, auch Nancy und im Weiteren Heidegger, Benjamin und Levinas, manchmal Kierkegaard sind die Köder in Mit ohne Mit, einer Kollektion von nachgelassenen Aufsätzen, jetzt bei Diaphanes erschienen.


Hamacher schrammt ein ums andere Mal die Sprachgrenze und bewegt sich im lyrischen Terrain, mehrdeutig, aufbruchsintensiv, neugierig am Dahinter, wenn es je eins gab. Die Zufälle rund ums „unreflektierte Nichts“ Hegels hin zur „Konterbande“, den Inserts wie „Vergiss das Keine nicht“, das „Oder/ Wo“ „Où/ Ou“ machen Spaß bei all ihrer Verstiegenheit, „[...] Mitsein-mit-Anderen sei Mitsein-mit-Anderen-als-Mitsein, es sei mithin Mitsein-mit-dem-Ohne-des-Mitseins“. Evergreens wie „Gott spricht immer nur JA“, das „I-A-H des Esels“, die „Differänz“ kommen zur religionssprachlichen Diskussion, wie ferner Marx’ Fetischbesatz in Die Leinwand spricht. Verlässlich gut werden Hamachers Aufsätze, wenn sie sich tatsächlich ins anbestimmte Terrain Lyrik begeben, z.B. bei Celan, & der Lyrik mit ihrer eigenen philologischen (verdeckten) Lyrik anoperieren. „[...] diese Sätze enthalten mehr, als mit ihnen gemeint wird.“

Jonis Hartmann

 

Werner Hamacher: Mit ohne Mit, Diaphanes, Zürich 2021

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