20. Oktober 2021

Notizzettel


Die übliche Form einer kompakten Rezension wäre angemessen bei einem über fünfhundertseitigen Buch. Da es aber den Titel „Notizzettel“ trägt, erscheinen einige Notizen dazu als ebenso berechtigt.


Der Kommunikationswissenschaftler Hektor Haarkötter postuliert, dass etwas auf Notizzettel geschrieben werde, um es zu vergessen. Also gerade nicht, um es anderen mitzuteilen. Die Notizen auf den Zetteln seien höchstens an die Notierenden selbst gerichtet. Nach Haarkötter sind Notizzettel Ausdrucksträger ohne Inhalt. Dabei stellt sich die Frage, ob diese Hypothese nicht durch das Buch und Haarkötters faszinierendes Panorama von Geschichten zu Notizzetteln und dem Kontext der Personen, die die Notizen darauf verfassten, widerlegt wird?


Der Einkaufszettel oder das Post-it sind meistens nur für mich wichtig und werden weggeworfen, wenn das darauf notierte, erledigt ist. In diesem Sinn trifft es zu, dass dabei keine Kommunikation mit anderen vorliegt. Dies betrifft jedoch in erster Linie den Zettel, nicht die Notiz, die ev. in einen anderen Zusammenhang übernommen wurde.


Diese Konstellation ermöglicht Haarkötter seine beeindruckende kulturgeschichtliche Darstellung. Sie beginnt bei Leonardo da Vinci, dem Erfinder des Notizzettels. Ludwig Wittgensteins Notierpraxis gleiche derjenigen von Leonardo. Georg Christoph Lichtenbergs so genannte „Sudelbücher“ und Niklas Luhmanns Zettelkästen mit Karteikarten werden erörtert sowie u.a. die Ansätze der Schriftsteller Robert Walser, Bruce Chatwin und Arno Schmidt mit „Zettels Traum“. Als Zusatz werden Notizen an der Wand, die Graffiti, präsentiert.


Zum Schluss bezeichnet Haarkötter den Notizzettel als das „Universalmedium unserer Zeit“. Als analoges, handgeschriebenes, privates Medium verweigere er sich der dominanten digitalen Welt. Haarkötter notiert: „Schreiben heißt Problemlösen.“ Und: „Wer keine Leser will, sollte nicht schreiben.“ Hier taucht der Widerhaken auf: Wird die Kulturgeschichte des Notizzettels als „symbolische Form“ verstanden, ist es gar nicht möglich, Ausdruck und Inhalt zu trennen. Zusammen bilden sie ein Zeichen für den Fortgang der Kommunikation.


Christian Mürner (www.christian-muerner.de)

 

Hektor Haarkötter: Notizzettel. Denken und Schreiben im 21. Jahrhundert.
S. Fischer Wissenschaft Frankfurt a.M. 2021, 590 Seiten, € 28.-

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