27. September 2021

Ethnografie und Borkenkäfer

 

Ethnologisches Schreiben kann viel: die neuen und individuell wahrgenommenen Einblicke in eine „Kultur“ und ihre gesellschaftlichen, erinnert-tradierten oder räumlichen Praxen ins Gesicht einer überraschten Leserschaft blasen zum Beispiel. Ethnografie kann auch wenig: wenn die Leserschaft sich nicht so einfach lüften lässt, weil das Beschriebene subjektiv wirkt und von den persönlichen Motiven und Standpunkten der Ethnografin getrieben, also biased (voreingenommen)  und „nicht wissenschaftlich (genug) ist“.

Hier soll ein Stück ethnografisches Schreiben vorgestellt werden, das ohne Zweifel Letzteres ist: nämlich subjektiv und engagiert. Das aber gerade jetzt, mitten im Klimawandel, mit seiner Konstruktion eines Biotops – des letzten Urwalds Europas an der polnisch-belarussischen Grenze – als umstrittenes Stück Lebenswelt viel kann.

Eunice Blavascunas heißt die Ethnografin aus den USA, die nach dem Ende der Volksrepublik Polen seit Mitte der 1990er Jahre in diversen Anstellungen im polnischen Teil des Bialowieza-Waldgebiets dessen postkommunistischen Aneignungen verfolgt und dokumentiert hat. Die longue durée des jahrtausendealten Waldes mit seiner ein Menschenleben lächerlich kurz erscheinen lassenden Taktung ist für sie Hallkammer, nicht Gegenstand. Auch unter den nichtmenschlichen Akteuren – den Bäumen und Bisons und Wölfen, dazu den Produzenten wie dem Humus, Konsumenten wie die neun Arten von Spechten, die es nur in Bialowieza auf einen Schlag zu finden gibt, und Destruenten wie den Baumpilzen – hebt sie am Ende nur den Borkenkäfer hervor und sympathisiert mit dem vermeintlichen Schädling.

Blavascunas‘ 2020 bei der Indiana University Press erschienenes Buch Foresters. Borders and Bark Beetles nimmt sich vor, Bialowieza – dieses vormenschenalte Stück Natur – als eine Art contested-space-and-time der letzten zweiunddreißig Jahre zu präsentieren. In dieser kurzen Zeitspanne hat eine Förster-Fraktion nach dem Ende des Kommunismus mal paktiert mit und mal agi(ti)ert gegen international anerkannte und gesponserte Wissenschaftler*innen; dazwischen standen, ebenfalls sehr volatil, die wald-erhaltungsgetriebenen conservationists.

Förster („lesniczy”) waren und sind die Heger und Pfleger, die die Dinge wachsen und abholzen lassen und damit eingreifen in das Ökosystem des puszcza (Urwald). Sie genießen die Rückendeckung der lokalen Bevölkerung, der sie Jobs beschaffen, unter anderem in Sägewerken. Im Kommunismus waren die Förster staatlich be- und angestellte Fachleute, im Postkommunismus und besonders unter den PiS-Regierungen ab 2005 und in der jetzigen seit 2015 wurden sie ideologisch gewandelt (oder wandelten sich selbst), ohne ihr Fachwissen zu verlieren, zu immer schon – auch in den Jahren der Fremdherrschaft von 1795 bis 1918, dazu unter nazideutscher Besatzung – bedeutenden Trägern von Polonizität.

Die Wissenschaft steht den örtlichen Förstern zumeist kritisch gegenüber. Sie versteht sich als globale Diskursgemeinschaft, die sich ungern nur auf polnische Befindlichkeiten einlässt. Auf sie und ihre Forschungen verlässt sich wiederum die EU, die gegen die polnische Vor-Ort-Politik einer Rodung von borkenkäferbefallenen Beständen des Walds scharfe Geschütze auffährt.

Die Umweltschützer sind die paradoxeste Gruppe in diesem widerspruchsdurchdrungenen Ensemble von Akteuren und Akteurinnen. Sie wollen den Bestand im Bialowieza so gut es geht konservieren, sind aber politisch nicht konservativ, sondern ökologisch inspiriert, ‚grün‘ und damit weit weg von der augenblicklich regierenden – und damit durchsetzungsrelevanten – polnischen Regierungspartei.

Eunice Blavascunas hat mit Vertretern von allen gesprochen und ihr Agieren über fast 30 Jahre verfolgt: den Förstern, Wissenschaftler*innen und Umweltaktivist*innen. Aus jeder Gruppe pickt sie sich eine oder einen heraus, porträtiert sie und ihre nicht immer über diese Jahre konsistentenPositionen.

Simona Kossak (inzwischen †), die als engagierte Wissenschaftlerin eingestiegen war, schwenkte um zur local heroine, die in ihrem Blockhaus mit Urwaldtieren den Tisch teilte und die legislativen EU-Übernahmeversuche abzulehnen begann, was sie in die PiS-Arme trieb. Leszek Szumarski (auch †) inszenierte sich als ‚Man of the Forest‘: eine Ikone des Urwalds, der aus Lebenserfahrung weiß, was Phase ist, ohne je einer der Förster gewesen zu sein, die den Urwald ökonomisieren. Und Janusz Korbel, der Publizist und Aktivist wie Szumarski, der den souveränen Blick hat auf das, was abgeht im polnisch-belarussischen Grenzgebiet, das Bialowieza auch ist.

Die drei umweltpolitischen Positionen und ihre exemplarischen Vertreter*innen würden reichen, um die Studie zu einem cutting edge-Blick auf die jüngere Vergangenheit und Gegenwart einer der weltweit umstrittensten und zugleich vulnerabelsten Ökosysteme zu machen. Blavascunas kann und will aber mehr, nämlich nicht nur ethnographisch schreiben, sondern als diese auch überzeugen. Sie verabsolutiert die Kossaks, Szumarskis und Korbels ausdrücklich nicht, wie es zeithistorische Ansätze täten, deren Narrative nicht ohne Held*innen und eine einfache conclusio auskommen: pro oder contra den Urwald und seine Bewahrung oder Abholzung. Sondern sie setzt andere Akzente; ihr geht es um eine Kartierung dessen, was außerhalb dieser Pro-Contra-Dichotomie möglich wäre.

Dafür aktiviert sie die Grenzlage von Bialowieza zwischen Belarus und Polen und, frisch in Erinnerung, den Kalten-Krieg-Reload an einer ideologischen Systemgrenze von Lukashenko hier, EU da. Auch im polnischen Teil des Urwalds gibt es gebürtige belarussische Akteure, die stigmatisiert werden, und die Gemengelage ist kompliziert(er). Foresters, Borders, and Bark Beetles wirft sich in die Bresche und wagt eine parteiische Intervention für die nicht so menschlichen Akteure in einem uralten Wald.

Bruno Arich-Gerz

 

Eunice Blavascunas ergänzt ihr Buch, das es noch nicht in deutscher Übersetzung gibt, mit einem 43-minütigen Dokumentarfilm über einen der Bialowieza-Akteure: Black Stork, White Stork

Eunice Blavascunas, Foresters, Borders and Bark Beetles: The Future of Europe's Last Primeval Forest. Indiana: UP 2020.

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