16. Mai 2021

Rettungswachs



„selbstmord-hotline besetzt“, eng bedruckt, fast zu klein der Schriftgrad – aufgrund des Materialumfangs aber verständlich: der Gedichtband strände. warum sie mich kaltlassen der Afroamerikanerin Wanda Coleman. Empathisch herausgegeben von Terrance Hayes und übersetzt von Esther Ghionda-Breger. Die Gedichte umfassen die 1970er bis zu den 2000er Jahren. Coleman, aus L.A., erweist sich als mit allen Wassern und allen Themen gewaschene Wortkünstlerin, die zwischen spoken word, Cento und Hommage wechselt, auch oftmals Brief, Essay, Comic und Sonett genannte Gedichte einstreut. Ihre Stärke ist der respektlose Flow, in den sie unterschiedslos Persönliches wie Literaturgeschichtliches, Politisches wie eine ganz eigene Art von Surrealismus packt. Als herausragend mag das seitenlange rettungswachs erwähnt sein, das fast wie eine Miniaturausgabe des ganzen Buchs wirkt, so sehr mäandert Coleman zwischen den unterschiedlichen Stilen. Immer wieder formt sie zusammengesetzte Texte, die z.T. auch grafisch gegeneinanderlaufen, wie Einkaufslisten.


„juni  die eichhörnchen haben den klempner gefressen“


Refrains und Fragebögentechniken finden sich ebenso wie Anrufungen von z.B. Wakoski, Vallejo, Borges oder Duncan, Achmatowa und Amiri Baraka. Coleman, die zunächst selbst der Bukowski-Wakoski-Szene entsprang, findet allerdings schnell zu ihrem eigenen derben Stil, den Esther Ghionda-Breger präzise und rhythmisch eiskalt wiedergibt. Da das englische Original fehlt, bleibt die Frage, ob Colemans gesamter lyrisch-tonaler Assoziationsraum erfasst wird, doch die klare Fokussierung auf die inhaltliche Unverstelltheit und direkte Schnörkellosigkeit macht den Sog der Gedichte im Deutschen erst möglich. Ein Geistesverwandter Colemans scheint Bob Kaufman gewesen zu sein, den sie nicht nur anruft, sondern z.T. auch stilistisch weiterentwickelt bis zu direkten Verszitaten.


Das Buch aus dem MaroVerlag ist eine bedeutende Veröffentlichung, die sowohl mutig als auch gekonnt auf sich nimmt, in die abwechslungsreiche Stimme einer der bedeutendsten Dichterinnen der USA der letzten Jahrzehnte hineinzufinden. Das Vorwort von Herausgeber Hayes sowie seine Idee, Coleman „in ihren eigenen Worten“ vorzustellen, zündet zudem als fundierter Einstieg.


„ich muss liefern (versuchen aus 15 cent einen dollar zu machen)

mach ich. wird nicht leicht sein
aber ich werde es machen“

„[...] in meiner fantasie fordere ich den ozean / heraus wie ein feministischer captain ahab auf der jagd nach dem großen / weißen wal. harpuniere ihn und reite bis zum meeresgrund, lege mich in / mein seemannsgrab und bin zufrieden, weil mein amerika mit mir stirbt
sound. rauschen, das rauschen der sense. eine tiefe, so unendlich wie meine vision“

[aus amerikanisches sonett 61]

ein griff in meine griot-tasche
weiblicher weisheit und kluger
gesellschaftskritik fördert backsteine
zutage, mit denen man entweder die
vergangenheit rekonstruieren oder
einen kopf dekonstruieren kann […]“


Jonis Hartmann

 

Wanda Coleman: Strände. warum sie mich kaltlassen, MaroVerlag, Augsburg 2021


https://www.maroverlag.de/lyrik/239-straende-warum-sie-mich-kaltlassen-9783875124972.html