6. Mai 2021
Frieder Oelze 2020 (Fotografie: Matthias Wolf. Editing: Edward Greiner)
Frieder Oelze 2020 (Fotografie: Matthias Wolf. Editing: Edward Greiner)
Tabelle mit Informationen
Frieder Oelze 2020 (Fotografie: Matthias Wolf. Editing: Edward Greiner)
Frieder Oelze 2020 (Fotografie: Matthias Wolf. Editing: Edward Greiner)
Rezept (blanco)
Frieder Oelze 2020 (Fotografie: Matthias Wolf. Editing: Edward Greiner)
Frieder Oelze 2020 (Fotografie: Matthias Wolf. Editing: Edward Greiner)
Frieder Oelze 2020 (Fotografie: Matthias Wolf. Editing: Edward Greiner)
Frieder Oelze 2020 (Fotografie: Matthias Wolf. Editing: Edward Greiner)
Frieder Oelze 2020 (Fotografie: Matthias Wolf. Editing: Edward Greiner)
Helmut Schmid, Monatszeitschrift 1974
Helmut Schmid, Packungsidentität 1988
Helmut Schmid, Typography Today
Karel Martens
Karel Martens
Otl Aicher, Piktogramm 1972
Otl Aicher, München 1972
Otl Aicher, Lufthansa 1963

Hamburg, Mai 2021
Der Künstler und Gestalter Frieder Oelze und Nora Sdun vom Textem Verlag sprechen über Frieders 1,40 x 1,40 m große farbige Tuschen auf Papier. Es sind große Tabellen. Entstanden sind bisher acht Blätter (in Leipzig 2021).

In schwarz auf weiß kennt man solche Strukturen von diversen Tabellen aus dem Alltag, von Putzplänen oder von x-beliebigen Exceltabellen. Diese sind auf irgendwelche DIN-Formate gedruckt und dienen dazu, irgendetwas dort abzuhaken, einzutragen, es sind To-do-Listen, Ordnungshilfen, wobei die Tabelle selbst keine Beachtung erfährt, man kann sich höchstens darüber aufregen, dass die Zeilen zu schmal sind oder zu kurz.

Als Gestalter ist man dauernd mit Texten befasst, wobei es nicht darum geht, sie zu bewerten oder zu verbessern, sondern die Information von Texten und Bildern zu organisieren.
Faszinierend ist für mich der Umstand, dass die ersten Schriftsysteme immer organisatorischen Zwecken galten, es ging darum, etwas verbindlich festzuhalten, also eine Methode zu entwickeln, etwas auch Jahre später nachvollziehbar festzuhalten, also ob man 50 Schafe verkaufte oder eben nur 35, und ob die Zahlung erfolgt ist oder noch aussteht. Die Notationssysteme waren pragmatisch, Ästhetik ist keine Kategorie für Verabredungen solcher Art. … diese Grundlage aller notierten oder geknoteten oder geritzten Organisation bringt mich zu den Tabellen als Form, es ist eine Faszination für Organisationssysteme überhaupt … in die der Inhalt erst eingefüllt werden könnte, im Fall meiner Tabellentuschen ist dieses Gerüst ohne weitere Information aber bereits hinreichend – das ist die Struktur, ob Viehverkäufe oder andere Routinen damit organisiert werden könnten interessiert mich nicht.

Die Farben der Tabellen sind willkürlich, das Set an Farben ist aber klar begrenzt. Es sind sechs Farbtöne der Leipziger Rohrer & Klingner Tusche, fertig, mehr Farben bietet der Leipziger Künstlerbedarfsladen nicht an. Es ist kein Farbschema was aus einer Formel abgeleitet ist, obwohl diese Idee natürlich entstehen kann; wenn man rhythmisierte Flächen dieser Art sieht, kann man an Formeln des Goldenen Schnitts denken, was sich natürlich auch auf Farbigkeit übertragen ließe.

Die erste Tabellenarbeit ist bereits 2018 für ein Plattencover entstanden. Dort sind rote, grüne und blaue Linien zu sehen. Der Musiker, für den ich das Artwork machte, beschreibt seine Stücke oft mit Farben. Er sagt z. B. »das ist ein oranges Lied«.

Ich wollte seitdem die Tabellen auch noch mal in groß machen, auch weil mich die Synästhesie des Musikers also Töne mit Farben zu assoziieren (das gleiche gibt es auch bei Buchstaben) fasziniert, vor allem, dass es ein für Nichtsynästhetiker verborgenes Strukturprinzip gibt, was hinter den Kompositionen liegt und auch verborgen bleibt.

Als Gestalter wäre es naheliegend gewesen, diese großen Tabellenblätter z. B. im Siebdruckverfahren herzustellen, jedenfalls ist das eine Technik, die ich beherrsche und die mir plausibel ist.
Aber obwohl ich kein Zeichner bin, hatte ich das etwas unklare Gefühl, das zeichnen zu müssen, im Rückblick ist klar, dass das Zeichnen selbst, der Prozess des konzentrierten Vorgehens Strich für Strich der entscheidende Antrieb war und ist.

Noch mal zurück zu Themen, die mich gerade beschäftigen. Da gibt es die Atomsemiotik – die Herausforderung der jetzt lebenden Menschen ein Design zu entwickeln für ein Warnschild für Atommüllendlager, also dass man hier nicht buddeln soll, weil dort eben der Atommüll liegt, der sehr ungesund ist und das eben auch noch Millionen Jahre sein wird. Rückwärts betrachtet, muss man leider feststellen, dass Schriftsysteme nicht leserlich bleiben, sondern eher dazu Anlass geben, genau dort herumzuwühlen, weil man die Warnung der Hieroglyphen an den Pyramiden nicht verstand, sondern dachte ah, hier ist bestimmt was Interessantes, … die Frage bei einem solchen Schild wäre zuallererst eine organisatorische, denn lateinische Buchstaben fallen als Informationsträger schon mal weg. Also vielleicht Piktogramme? Aber wie weit lässt sich das Tun und Treiben der Menschen in Piktogrammen in einem Zeichen zusammenfassen. Also wie geht Information, ohne zu wissen, was Information in 10 000 Jahren sein wird.

Und dann gibt es eben Künstler*innen die genau so jahrzehntelang gearbeitet haben, also Information ohne Information zu gestalten. So bei Hanne Darboven. Solche Arbeitsweisen faszinieren mich. Das Überschreiben und immer wieder neu machen. Anni Albers entwarf auf Kästchenpapier Webvorlagen … also Raster, die wie ein Code ausgelesen werden können.
Toll ist, dass der Code, der einem Webmuster zugrunde liegt, einem nicht auffällt, wenn man einen Teppich betrachtet, die dahinterliegende Struktur drängt sich nicht auf, ohne diese gäb‘s aber keinen Teppich.

Das ist so ähnlich wie beim Grafikdesign, erst baut man ein Raster, das wird gefüllt, am Ende füllt die Information das Raster ganz aus, dann wird das Raster weggeklickt und unsichtbar, aber ohne das Raster hätte man keine Gestaltung, keine Organisation.

Bei den Tabellen arbeite ich in die entgegengesetzte Richtung, es ist nur noch die Struktur zu sehen, ohne Information.

Noch mal zu den verborgenen Strukturen. Die Rede von der mathematisch schönen Formel, in der ein Sachverhalt, vielleicht überhaupt die Weltformel, in einer Zeile dargestellt wird, können wir beide nicht lesen, das wird von Physikern aber als »schön« beschrieben, vermutlich eher im Sinne von erhaben (vor allem, wenn es denn die Weltformel wäre), aber auch im Sinne von ästhetisch schön, weil hochkomplexes Zeug ganz reduziert erscheint.
Für mich sind Raster dann schön, wenn sie, so bei Buchgestaltung, nicht als aufdringliches Gestaltungsmerkmal spürbar werden, sie stabilisieren und harmonisieren das Projekt, sind aber bestenfalls gar nicht zu spüren. Idealerweise erzeugt man damit Ruhe, sodass man sich konzentriert dem Inhalt widmen kann.
Und obwohl mir Mathematik ganz fremd ist, freue ich mich sehr über so einfache Zusammenhänge wie aufeinander abgestimmte Schriftgrade oder Gestaltungsraster aus Vielfachen von Fünf aufzubauen, weil die Rhythmik wirklich beruhigend und klärend wirkt.

Die große Skalierung, also die Entscheidung für das Überformat, ist eine Entscheidung für die Tabelle als Form. Das ist der Nützlichkeit entzogen. (Obwohl man sicher selbst bei stark vergrößerten Tabellen eher einen Impuls spürt als Betrachter*in dort etwas einzutragen, anders als beim Betrachten von Landschaftsmalerei). Außerdem gibt es Grafikdesigns (siehe Otl Aicher) in denen Elemente der Gestaltung skalierfähig sind, sodass sie sehr groß aber auch winzig klein sein können, so kann ich ausgehend von einer »nützlichen« Tabelle diese auch sehr groß ziehen, es bleibt eine Tabelle, betone damit aber eine Bedeutungsverschiebung aus dem Bereich des Nützlichen heraus.

Die Tuschen entstehen alla prima, es sind nass in nass gearbeitete, durchgezogene lange Bewegungen mit einem Tuschpinsel an einem Lineal entlang, ich ziehe mit der Tusche zwei Nulllinien im rechten Winkel und dann arbeite ich mich von dort aus über das ganze Blatt. Vor einem solchen Strich muss der Kopf leer sein. Wenn ich darüber nachdenke, dass ich jetzt noch zwei letzte Striche zu ziehen habe, zerfetzt es mir die Konzentration und ich versau das ganze Blatt. Das ist wie ein Halbmarathon oder wie eine Meditation, man kann den Vorgang nicht unterbrechen und mal eben telefonieren. Die Stunden rauschen weg, aber man ist vollständig ausgefüllt vom Tun.

Das Raster selbst darf auf keinen Fall zeigen, dass ich daran stundenlang zugange war. Es geht nicht um das vorführen von Virtuosität oder einer Fleißarbeit. Unaufdringlich, und eine Konzentration, die sich selbst genügt.
Es ist eine Tätigkeit, die einer Thematik folgt, die hinter, unter oder vielleicht auch unabhängig von allen alltäglichen, auch außergewöhnlichen Erlebnissen, die in meinem Leben stattfinden, liegt. Wie ein Rhythmus.

Ich habe früher Tischtennis gespielt, wo ein ähnliches Strukturprinzip wirkt, der Kopf muss leer sein (es hilft nicht den Spielzug von Gegnern antizipieren zu wollen). Aber das Klickern auf der (auch tabellenartig gerasterten) Platte, die immer gleichen Bewegungen (im Training), also der Rhythmus oder das Raster auf der Soundebene sowie auf der Bewegungsebene erzeugt einen Flow und dann ist man wirklich gut.

Und ebenso sind nun auch diese Tabellen rhythmisiert. Auch wenn ich keine Farben als Töne oder Buchstaben wahrnehmen kann, habe ich vielleicht eine Flow-Begabung, es fällt mir leicht, in einen solchen Zustand zu fallen.
Wenn ich mich beruhigen muss, erinnere ich mich ans Tischtennisspiel, etwas was man stundenlang ausüben kann. Man ist in einem außerzeitlichen Raum.
Ich komme ins Gleiten beim Arbeiten, auch beim Grafikdesign z. B. wenn ich einen Flattersatz ausgleiche, nicht wenn ich ein Cover entwickele, also dann, wenn ich ganz nah an der Struktur arbeite, und daran diese so schön und das heißt eben so unmerklich wie möglich auszufüllen, arrhythmischer Flattersatz stört nämlich beim Lesen, dann wird die Struktur ärgerlich sichtbar.
Im mag das Durcharbeiten dessen, was sich zueinander fügt, und habe eine Vorliebe für das nicht sichtbare, aber im Hintergrund stabilisierende, strukturierende. Wenn ich beschreiben müsste, was die Berufung in meiner Berufstätigkeit ist, ist es das Verschwinden in der Technik, es geht nicht um Handschrift oder Style, das ist mir weder bei Grafikdesign noch bei den großen Tabellentuschen wichtig.

Ich habe während des Studiums an der HfbK in der Bleisatzwerkstatt gearbeitet und wollte das solange machen, bis ich das kann, also solange üben, bis ich das beherrsche. Das limitiert schon mal von vornherein, weil ich mich in dem Zeitraum eines Studiums nur mit einem kleinen Bereich von Bleisatz befassen kann, mehr kann man in so kurzer Zeit nicht begreifen, also buchstäblich anfassen, auch weil diese Werkstatt nur eine Gruppe von wenigen Schriften hatte, und die Presse, auf der man Abzüge machen konnte, ergab Formate von maximal DIN A4, (was aber eh kein sinnvolles Buchformat ist).
Aber die Schriftgrößen im Bleisatz der HfbK-Werkstatt z. B. sind harmonisch aufeinander abgestimmt, es gibt nicht diverse Zwischengrößen, obwohl das in der digitalen Welt kein Problem darstellt, (»kein Problem« ist aber kein sonderlich inspirierendes Kriterium).
Gerade die Limitierung ist der wesentliche Faktor, der dabei hilft, sich nicht zu verzetteln, meine Spielräume werden größer durch eine Limitierung der Materialien oder Bestandteile (der Firlefanz ist vielleicht witzig, aber ich werde es nicht schaffen, das in einer für mich Zufriedenstellenden Art und Weise zu organisieren).
Und dann ist man wieder bei den großen Tabellen – keine Landschaft, keine Porträts, keine Tagespolitik … nur Linien.

Anhang:
Im Laufe der Unterhaltung sprachen wir noch über viele weitere Grafikdesigner und Künstlerinnen darunter:
Helmut Schmid wegen Gestalten nach musikalischen Regeln.
KP Brehmer wegen Tabellen, Infografik und der Feier der gestalteten Information.
Hanne Darboven wegen Repetition und Minimalismus.
Anni Albers wegen ihrer Skizzen, die später als Code in eine Maschine eingepflegt zu Teppichen werden.
Otl Aicher wegen der Skalierbarkeit seiner Entwürfe, sodass auf dem Ticket für die Flugreise mit dem gleichen grafischen Material gearbeitet wird wie auf einem Flugzeughangar.
Hyung-Sook Song wegen der Konzentration und Unaussetzbarkeit von Bewegungen.