6. Mai 2021

Nord-Nord-Süd-Setting der Kolonialität



Als der Imperialismus in voller Blüte stand, fehlte einem der bevölkerungs- und flächenmäßig größten Länder Europas der Status eines Nationalstaates. Nach drei Teilungen im späten 18. Jahrhundert galt Polen zwar als ein Gemeinwesen mit einer nicht nur von seinen Eliten kultivierten „Polishness“. Nur über eine „state machinery back home“ verfügte es nicht, die für eine Teilnahme am Wettrennen der europäischen Nationen um Kolonialgebiete im globalen Süden unerlässlich war.


Das ist der eine Ausgangspunkt in Lenny A. Ureña Valerios clever angelegter, weil mehr als nur bipolar vergleichenden Studie über Polens „colonial phantasies“.


Der andere Ausgangspunkt: Polens eigene „imperial reality“ war die einer Quasi-Kolonie. Seit den Teilungen hatten die Preußen in Schlesien, Pommern West-, Süd- und (Neu-)Ostpreußen das Sagen, während Österreich-Ungarn über Südostpolen (Galizien) und Russland in Litauen herrschte, das jahrhundertelang Teil der Polnisch-Litauischen Union gewesen war.


Die polnische Nation war also in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (und bis nach dem Ersten Weltkrieg) gefangen zwischen der Skylla einer starken und klar definierten kollektiven Identität und der Charybdis, nicht als international anerkannter Staat zu existieren. Dies war besonders für die westlichen Teile des Landes ein Problem. Beherrscht von einem fremden Reich, das Außenposten in Afrika und im Pazifik errichtete, befand man sich in einem Zustand der „in-betweenness“. Polen war „part of Germany, but not quite“, wie es in Colonial Fantasies, Imperial Realities mit Homi K. Bhabha heißt: Man war zwar weiß wie die deutschen Afrikakolonisatoren, unterschied sich von ihnen aber in puncto Staatsmächtigkeit und damit agency. Mehr noch, das preußische Vorgehen in Oberschlesien und anderen polnischen Provinzen war gleichfalls deklariert als „civilizing mission“. Unterstützt durch literarische (Gustav Freytag), reisejournalistisch-publizistische (Georg Forster) und andere Diskurse und weiter angeheizt durch eine Reihe von Epidemien (Typhus, Cholera), die eine sofortige biomedizinische Forschung und Eindämmung erforderten, wurden Polen und die jüdische Bevölkerung in den Provinzen von vielen Deutschen als kulturell rückständig, rassisch minderwertig und Bedrohung für die hygienischen Standards in Preußen angesehen.


Was die kaiserreichdeutschen Unternehmungen der Zeit angeht, geht Ureña Valerio konsequent stereoskopisch vor und nimmt deutsche Bio-Wissenschaftler, Raumaneigner und im Rassedenken verhaftete Kolonialisten in Schlesien, Westpreußen und den Übersee-Domänen gleichermaßen in den Blick. Interessant wird es, wenn sie auf polnische Akteure zu sprechen kommt, wie die zahlreichen Ärzte, die sich an Universitäten an der Produktion von Wissen über die Wege und das Wesen von Infektionen im Dienst (und Geist) der Deutschen und ihres Kolonialdünkels beteiligten. Schnell werden hier die Widersprüche und Ambivalenzen deutlich, die sich aus dem fast, aber nicht ganz der polnischen Fachleute ergeben, etwa den Ähnlichkeiten in den abwertenden Haltungen, die einige von ihnen sowohl gegenüber ihren verarmten und von Krankheiten geplagten Landsleuten als auch den überseeischen Ethnien hatten. Beispielhaft nennt Ureña Valerio den Posener Arzt Boguslaw Kapuscinski mit seinem „paternalistic feeling“ zu und über polnische „poor people regarding cholera“: eine Einstellung, die in der Sache identisch war mit denen vieler Polen zur ‚Unzivilisiertheit‘ Afrikas und, mutatis mutandis, der Notwendigkeit einer deutschzivilisatorischen Intervention.


Von hier ist es nur ein kleiner Schritt zur polnischen Rolle „in the colonial explorations and missions that Germans pursued in Africa“. In Polen geborene und sozialisierte Mediziner wie Emin Pascha alias Eduard Schnitzer, ein Quarantänearzt aus Oppeln, sammelten im subsaharischen Afrika Wissen über Infektionskrankheiten wie Malaria oder die Schlafkrankheit, und publizierten dieses Wissen in deutschen, aber auch von polnischen Wissenschaftsvereinen gegründeten Fachzeitschriften. Ureña Valerio zeigt auch hier die Ambivalenzen des polnischen Engagements (und der Verstrickung) auf. Jan Czekanowski zum Beispiel, ein afrikareisender Anthropologe aus Gluchów, entwickelte zwar „an imaginary identification with natives“ und kritisierte deutlich die „various colonial systems in East central Africa“. Gleichzeitig machte seine Beteiligung an den Forschungsexpeditionen ihn zum „key collaborator of European powers by the very act of collecting, classifying, and creating knowledge about the region, all of which supported colonial agendas“.Antoni Jakubski, ein Naturforscher aus Lemberg, der 1909 Deutsch-Ostafrika besuchte, hatte zu Recht viel an der deutschen Herrschaft vor Ort auszusetzen, hielt seinen eigenen afrikanischen Gehilfen Mahmadi aber an der sehr kurzen Leine, wenn er mit ihm das Klischee vom „most faithful dog devoted to his master“ perpetuiert. Und auch polnische Laienforscher wie Stefan Szolc-Rogozinski aus Kalisz, der 1883 vor der Küste Kameruns eine kleine Insel erwarb und mit zwei Kompagnons die Region erforschte, oder Literaten wie der Nobelpreisträger Henryk Sienkiewicz verheddern sich zwischen der Selbstgleichsetzung mit den afrikanischen Kolonisierten und einer Attitüde weißer Überlegenheit, die zwangsläufig mit den unterdrückerischen deutschen Ansichten zur Deckung kommt. Unter der polnischen Widerständigkeit lauert so ein ungebetenes Stockholm-Syndrom. „Whereas in Europe he was the defender of the Polish cause against the German Empire“, so das Fazit zu Sienkiewicz und der zivilisatorischen Mission der polnischen Figuren in seinem Kolonialroman W pustyni i w puszczy (1912), „in the colonies he often identified himself with German military and colonial prowess“.


Afrika war nicht der einzige Schauplatz, auf dem sich das deutsch-polnische imperiale Verwicklungsgeschehen abspielte. 1871 gelangten zweiunddreißig Familien polnischer Herkunft, „peasants from the Prussian province of Upper Silesia […] escaping from harsh economic conditions, Germanization policies, and diseases faced at home“, nach Brasilien und siedelten in der Region Paraná; auf sie kommt Colonial Fantasies, Imperial Realities ganz zum Schluss zu sprechen. Die Einwanderer profitierten von einer nach der Unabhängigkeit Brasiliens eingeführten Zuzugspolitik und wurden zur Speerspitze einer Massenmigration von rund 120.000 Polen, die bis 1918 vom goraczka brazylijska (Brasilienfieber) erfasst wurden. Von den imperialen Realitäten aus ihren Herkunftsorten vertrieben, stehen sie ein für die substanziellste Transformation der kolonialen Phantasien einer Nation in eine Quasi-Wirklichkeit. Ureña Valerio bemängelt die fehlende wissenschaftliche Beschäftigung mit dem „Polish colonization project in Brazil“ und insbesondere den Beziehungen der Polen zu den „local communities, especially with natives and Afro-Brazilians“. Sie entlarvt zwar die rassistische Denke einer weißen brasilianischen Elite als ursächlich für die Öffnung des Landes für polnische Immigranten, und zieht Parallelen zur Rassenideologie im Kaiserreich: „[a]t the heart of imperial colonization plans in Germany and Brazil lay a similar racial ideology that led authorities to invest resources in the settlement of ‘superior’ Germans or Europeans vis-à-vis local communities“. Doch weist sie erneut hin auf das Vorhandensein einer solchen Denke auch im (und unter den) Polen der Zeit.


Lenny Ureña Valerios Ansatz schaut neu und in dieser Ausführlichkeit erstmals auf ein komplexes Nord-Nord-Süd-Gefüge mit teleskopischen Beziehungen von Kolonisator und vermeintlich oder tatsächlich Kolonisierten. Es ist die postkoloniale Perspektive innerhalb dieses nicht nur dichotomischen (Polen und Deutsche), sondern Nord-Nord-Süd-Settings der Kolonialität, die Colonial Fantasies, Imperial Realities zu einer besonders lohnenden (und übersetzenswerten) Lektüre macht.

Bruno Arich-Gerz



Lenny A. Ureña Valerio: Colonial Fantasies, Imperial Realities. Race, Science and the Making of Polishness on the Fringes of the German Empire, 1840–1920, Athens: Ohio University Press, 2019