23. März 2021

Reisen, Rasten und Unreisen



Rast und Unrast: Das eine Wort steht für Ruhe und Stationäres. Es wird gern ‚eingelegt‘. Das andere ist wegen der Vorsilbe nicht einfach dessen Negation, sondern schleppt den ersten Begriff perfide mit, um ihn mit Faul- und Trägheit zu konnotieren. ‚Unrast‘ beschreibt das agile Gegenteil von ‚Rast‘: Es geht um Antrieb und ein Sich-auf-den-Weg-Machen.


Man kann dieses Begriffspaar aber auch mal kreuzweise nehmen. Felicitas Hoppe und Indra Wussow hatten vielleicht genau das im Sinn, als sie der Aufzeichnung ihres viertägigen Gesprächs den Titel Unreisen gaben. Nicht um das Reisen und seinen aus intellektuellem Reiz angestrebten Destinationen geht es ihnen, sondern um das Andere vom herkömmlichen Unterwegssein. Ganz schlicht und weder wortklauberisch noch perfide: Unreisen sind Expeditionen in die Echokammern zweier Schriftstellerinnen aus Deutschland, von denen die eine eine Stiftung leitet, Kunstprojekte kuratiert und in Johannesburg lebt.


Vielfältig sind vor allem Indra Wussows Welterkundungen. Während Feliticas Hoppe eine alimentierte Unrast kultivieren muss, wenn sie von einem Goethe-Institut zum nächsten bundesrepublikanischen Außenposten in Sachen Kulturvermittlung weitergereicht wird (womit sie erkennbar fremdelt), sind Wussows Reiseerfahrungen rechenschaftsberichtsbefreite, weil selbst finanzierte Aus- und Eingriffe. Sie führen in die inneren Landschaften von Künstlerinnen und Künstlern, die sie bei sich zu Gast hat. Oder es geht in die äußeren Topografien des Terrors, die sich in Phnom Penh genauso finden wie im Südafrika der Apartheid oder im schmerzhaft erinnerten Shoah-Deutschland.


Von Hoppe, der Literaturkünstlerin, zu Wussow, der Kunstermöglicherin, schlagen kluge Funken. Manchmal fliegen sie auch ein bisschen, was an Hoppes sympathisch selbstgewisser Führung des Gesprächs liegt, das auf Sylt stattgefunden hat. Den üblichen Erwartungshaltungen an Reisen und ihre Transformation in Sprache erteilen beide Absagen.


Felicitas Hoppe hält sich dafür lieber im Vorfeld des in Schrift Stellens von Reisen auf. Ausdrücklich nimmt sie sich hier eine Auszeit von den Zuschreibungen, die zuletzt ihre Road Novel ‚Prawda‘ bedient hatte, und dreht und wendet dabei den Begriff der Wahrnehmung als vorsprachliches Registrieren von Unterwegssein an anderen Orten. Im Fall der alimentierten Unrast wird er zu einem unschönen ‚Wahrnehmungsauftrag‘: Angenehmer, aber auch ambivalenter ist das Aufladen von ‚Wahrnehmungsbatterien‘. Und dann streifen Wussow und Hoppe die Problemlagen des Reisens als weiße Nordglobale zu postkolonialen Bedingungen. Zutage treten Ein- und Ansichten zum Fremdsein am anderen Ort, zu Klischees, die immer irgendwie mit im Gepäck sind, und eine differenzierte Einordnung der ebenfalls die Welt vermessenden Kollegen Schriftsteller, von Kehlmann bis Thomas Stangl.


Unreisen, das neue Wort, lässt sich auch auf der Frequenz des seit einem Jahr alltäglich Gewordenen hören. Corona stationierte die Weltbewohnerinnen dort, wo sie sich beim Ausbruch der Pandemie befanden oder in einer vorerst letzten Heimholung hinbegeben haben. Bei Felicitas Hoppe ist das Berlin, und Indra Wussow hat die Zeit in Südafrika verbracht. Die erzwungene Rast und das Unreisen bekommen ihnen so la-la. Doch auch hier bleiben die beiden auf Niveau: Sie machen kein einfaches Lamento draus, sondern loten in einem Gesprächsnachtrag klug die Chancen ihrer plötzlich ausgeknipsten Unrast aus.

Bruno Arich-Gerz


Unreisen. Felicitas Hoppe und Indra Wussow im Gespräch.
Mit Illustrationen und Kompositionen von Jill Richards und Jaco van Schalkwyk.
Heidelberg: Wunderhorn 2020.
ISBN 978-3-88423-645-1. 20,- €