21. März 2021

Der deprimierte Zensor


„Eine gewöhnliche Geschichte“ nennt Iwan Gontscharow den Auftakt seiner Romantrilogie. Ein typisch bescheidener Titel für etwas, das ganz und gar universell scheint wie auch die praktisch lebenslang anhaltende Krise des 19.-Jahrhundert-Autors Gontscharow, der zu Lebzeiten komplett verbitterte und in Schweigen verfiel, bis er starb. Seine Werke, die drei Romane, von denen „Oblomow“ der wohl bedeutendste ist und zudem der erfolgreichste war, sprechen seitdem. Es geht in ihnen meist um gar nichts. Die Texte sind lang und breit ausgefächert, in den typischen Salonszenen, Dialogen und wahlweise brieflichen Einschüben und dem damaligen Zeitstil verpflichtet. Selten, dass einmal jemand länger als einen Satz lang die Straße entlanggeht oder sich eine Live-Aufregung einstellt. Träge, von einem Gefühl zum nächsten, schleppt sich Adujew, Protagonist der „gewöhnlichen Geschichte“, seinen Träumen hinterher.


Detailliert, bedacht, behutsam hat Vera Bischitzky diesen Klassiker der deprimierenden Weltliteratur neu übersetzt (Hanser Verlag), der in seinem Figurenansatz durchaus tragikomische Züge trägt, in manchen Dialogen fast zum Screwball oder einem Billy Wilder driften könnte, was er natürlich nicht tut. Adujew, der dichtende Schwärmer vom Land, kommt in die große Stadt Petersburg, um als niedlicher Universal-Taugenichts die Welt zu gewinnen im Namen der Poesie & Liebe, und gerät ganz „alltäglich“ in die Abstumpfung, Lethargie, Lochlastigkeit der urbanen Gesellschaft. Deren feister Vertreter ist Onkel Pjotr („Ich vermeide es prinzipiell, mich mitzuteilen“), der den Neffen bei sich wohnen lässt und ihm die „Flausen“ etc. austreibt – er ist verbeamtet, Fabrikbesitzer und erklärter Mr. Know-it-all –, indem er beispielsweise seine Zimmerwände neu tapeziert mit Adujews Lyrik oder sie gleich in den Kamin wirft. Onkelchen sorgt auch für eine Kritik eines befreundeten Zeitschriftenredakteurs an Adujews Prosa:


„Allgemein lässt sich eine Unkenntnis des Herzen feststellen, übertriebene Leidenschaftlichkeit, Unnatürlichkeit, alles ist gestelzt, nirgends ein lebendiger Mensch ... der Held ist misslungen ... solche Menschen gibt es nicht ... zum Druck ungeeignet! Der Autor scheint dennoch nicht unbegabt zu sein, muss aber an sich arbeiten.“


Es kommt nach einem ganzen Haufen systemischer Übernahmen des Adujew, seiner unangepassten Seele, insbesondere jener hochfliegenden Träume (Schreib- und Übersetzertätigkeiten im kapitalistischen Sinne, Männerklub-Aktionismus etc.), zwar zu einem Pseudo-Happyend nach ländlicher Rückkehr Adujews und erneutem Petersburg-Aufenthalt mit Rente und Braut, doch hat die Poesie verloren und das Herz ist kalt. Adujew ist abgestumpft worden – ganz wie sein Autor Gontscharow es selbst erfahren sollte, verbeamtet als Oberzensor der zaristischen Regierung – gegen die Literatur. Er gab ebenso auf. Seine drei Romane allerdings hören nicht auf. „Eine gewöhnliche Geschichte“ ist leider sehr alltäglich, aber trotz der Entfernung noch immer extrem dicht dran am Menschen (Mann).


Jonis Hartmann

 

Iwan Gontscharow: Eine gewöhnliche Geschichte, Hanser 2021

https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/eine-gewoehnliche-geschichte/978-3-446-26925-5/