20. März 2021

Mit dem Senkblei von der Oberfläche in die Tiefe

Lotgasten bestimmen die Wassertiefe an Bord einer Fregatte, Illustration aus 1844

 

 

Der neue Gesprächsband von Alexander Kluge und Joseph Vogl reiht sich mit dem titelgebenden Begriff des „Senkbleis“ in eine spannende Denkgeschichte ein.
Ein Essay von Timo Schröder

 

 

 

 

Die folgende Szene der Verwunderung dürfte so manchen spätnächtlichen Fernsehzuschauer*innen der letzten Jahrzehnte nicht ganz unbekannt sein. Um Mitternacht herum schaltet man durch das Programm und auf RTL oder SAT1, zwischen Wiederholungen und Spätnachrichten, ertönt plötzlich experimentelle Musik, tauchen sonderbar grelle Schriftzüge sowie Menschen in merkwürdigen Bluescreen-Umgebungen auf. Sie sprechen über Themen wie die Dialektik Hegels, die Intelligenz von Bienen oder die filmischen Ambitionen Sergej Eisensteins. Verantwortlich für diese wundersamen Momente war stets der Philosoph und Filmemacher Alexander Kluge, der mit seiner Produktionsfirma DCTP lange Zeit die sogenannten Fensterprogramme der Privatsender bespielt hat. 

Disruptiv waren dabei nicht nur die Sendungen selbst, die mit ihrer Anti-Ästhetik und ihrem hohen intellektuellen Anspruch das sonst gleichförmige Kulturindustrieprogramm unterbrochen haben. Auch die Gesprächstechnik, mit der Kluge seine Interviewgäst*innen empfangen hat, war immer von der Kunst einer produktiven Unterbrechung und Ergänzung geprägt, die ungeübten Zuschauer*innen vor den Kopf stoßen kann. Da werden die Antworten der Befragten gerne auch mit eigenen Gedanken und Stichworten sanft aus dem Off aufgewühlt und in ihrer Linearität zumindest irritiert. Zugegeben, diese Art des Dialogs, wenn sie auch nicht unhöflich war, funktionierte doch immer mit manchen Gäst*innen besser, als mit anderen. Einer, mit dem Kluge sich stets besonders gut verstand und noch immer versteht, dessen Art zu Denken ganz wunderbar in seiner Art zu Fragen aufgeht, ist der Literaturwissenschaftler Joseph Vogl. 2020 ist deshalb schon zum zweiten Mal ein Gesprächsband mit alten und neueren Unterhaltungen der beiden in Textform erschienen. 

Das Buch trägt den zunächst sonderbar anmutenden Titel „Senkblei der Geschichten“. Wie schon im 2008 erschienenen „Soll und Haben“, versammelt auch der neue Band Gespräche der beiden Denker, die oftmals in den DCTP-Sendungen, teilweise auch in feuilletonistischen oder wissenschaftlichen Kontexten geführt wurden. Wie Kluge und Vogl in diesen Dialogen auf die Denkanstöße des anderen reagieren, Assoziationen austauschen und im Verlauf immer wieder unvorhersehbare Abzweigungen und Umwege nehmen, ist auf eine anspruchsvolle und anregende Art so unterhaltsam wie erkenntnisreich. 

Thematisch und inhaltlich fällt es dabei schwer, die Texte unter eine allgemeine Überschrift zu bringen. Oft geht es um kleine oder große Literaturen, um Narrationen, um wirtschaftliche oder gesellschaftliche Zusammenhänge und Details, um Technologie und Zukunft. Gemein ist den Unterhaltungen dabei ein Denk- und Erkenntnisweg, der oftmals vom Kleinen ins Große führt, der sich nicht zu schade ist, sich mit vermeintlichen Alltäglichkeiten auseinanderzusetzen, um von diesen dann zu erweiterten Rückschlüssen, Verbindungen und Relationen zu gelangen. Will man mehr über dieses Verfahren herausfinden, lohnt sich ein genauerer Blick auf den Titel des Buches. „Senkblei der Geschichten“ klingt ein wenig sperrig und doch schreiben sich Kluge und Vogl mit dem Begriff des Senkbleis in eine reichhaltige und spannende Geschichte der frühen Kulturwissenschaft hinein.

Was aber ist überhaupt ein Senkblei? Bau und Funktionsweise dieses uralten Werkzeugs mit dem brutalistisch anmutenden Namen, sind bemerkenswert simpel, fast schon banal. Ein Faden und ein symmetrisches Gewicht, das an jenem befestigt wird und meist aus Stein, Eisen oder eben Blei geschaffen ist, sind die einzigen Bestandteile. Hinzu kommt nur die Schwerkraft als eine dritte Akteurin, die das Gewicht in einer buchstäblich schnurgeraden Linie, einer exakten Vertikalen, nach unten zieht. 

Mit diesem einfachen Aufbau erfüllt das Senkblei, das auch Lot, Lotleine oder Senkel genannt wird, im Wesentlichen zwei Aufgaben. Bereits vor Jahrtausenden ermöglichte die genau vermessene Senkrechte den Bau der Pyramiden und das Hochziehen gerader und dadurch stabiler Hauswände. Neben dem Bauwesen, findet das Senkblei in der Nautik eine noch simplere Anwendungsweise. Hier wird das Gewicht an der Wasseroberfläche hinabgelassen, um so an einem Seil die Tiefe der See am aktuellen Standpunkt abzulesen und die Information in Kartographie und Navigation einzubringen. Um zudem die Beschaffenheit des Grundes zu erfahren, wird das Gewicht an der Unterseite mit Talg bestrichen, in den sich Partikel am Meeresboden hineindrücken können. 

In beiden Fällen handelt es sich um eine Vermessung und Erkundung der Welt, die mit dem Senkblei vorgenommen wird. Einerseits die rationale und mathematische Ausrichtung einer chaotischen Natur, die sich üblicherweise so gar nicht exakt und rechtwinklig gibt; andererseits der Wunsch, Erkenntnis darüber zu erlangen, was dem Blick des bloßen Auges, der an einer mehr oder weniger opaken Oberfläche hängen bleibt, verwehrt ist. Heute ist das klassische Senkblei in beiden Anwendungsbereichen von modernen Varianten, wie dem Laserstrahllot oder dem Echolot, vertrieben worden.

Von der langen Kulturgeschichte des Senkbleis als konkretes Werkzeug und materielles Artefakt abgesehen, finden sich auch viele Beispiele einer metaphorischen oder symbolischen Verwendung. Tiefe, abgründige Seelen und Herzen werden in der Literatur des 19. Jahrhunderts reihenweise mit Senkbleien ausgelotet. In biblischen Texten taucht das Werkzeug zudem an vielen Stellen als Symbol für die Exaktheit Gottes auf. So auch im Zweiten Buch der Könige, in dem Gott die Stadt Jerusalem prüft und richtet: „Und ich will an Jerusalem die Messschnur anlegen wie an Samaria und das Lot wie ans Haus Ahab […]“ (2. Kön 21,13) 

Bei einem ganz anderen Ahab taucht das Senkblei dann viele hundert Jahre später erneut auf, oder besser gesagt ab. Nicht mehr der König des Nordreichs Israel ist nun gemeint, sondern der Kapitän der Pequod, jenem legendären Walfangschiff, dessen abenteuerliche Jagd auf Moby Dick in Herman Melvilles gleichnamigen Roman von 1851 erzählt wird. Nun überrascht es nicht, dass auch an Bord der Pequod das Senkblei als Tiefenmesser verwendet wird, doch auch in der literaturwissenschaftlichen Interpretation des Textes spielt das Werkzeug metaphorisch eine Rolle. In einer Fernsehunterhaltung aus dem Jahr 2011 sprechen Kluge und Vogl über den Roman und dieses Gespräch ist nun das titelgebende des neuen Buches geworden. 

„Literatur oder literarische Texte sind in gewisser Weise eine Art Senkblei, das man in die Zeit, in die verschiedenen Schichten der Zeit hält“ (Kluge/Vogl 2020, 24), erklärt Vogl. Ein Text würde, ob er will oder nicht, die Bewegungen und Bedeutungen seiner Epoche für einen Moment gefrieren lassen und diese so der Besichtigung preisgeben. Melvilles Roman stelle dann, so Vogl, eine Art Archäologie des 19. Jahrhunderts bereit. In diesem Beispiel ist zunächst der Text selbst ein Senkblei, das von der Autorin oder dem Autor während des Schreibprozesses, bewusst oder unbewusst, in die Tiefe der Zeit hinabgelassen wird und die Schichten dieser konserviert. Aber auch die nachträgliche Analyse, die sich diese Konservierung zu Nutzen macht, verwendet eine Art methodisches Senkblei. Sie beginnt die Untersuchung an der Oberfläche, bei einem zunächst ganz unscheinbaren Abenteuerroman, und stößt erst langsam in tiefere Zonen eines historischen und literarischen Kontextes vor. 

Von Tiefe und Substanz ist, insbesondere in der westlichen Tradition, oftmals die Rede, wenn es um analytische Erkenntnis geht. Nietzsche etwa bezeichnet sich in der Vorrede zu seiner Morgenröthe als einen „Unterirdischen an der Arbeit“ (Nietzsche 2003, 11). Er steigt selbst hinab in die Tiefen der menschlichen Moral, seine Werkzeuge, könnte man meinen, sind die Grubenlampe und der Spaten. Anders der Soziologe Georg Simmel, der sich stattdessen des Senkbleis bedient. An mehreren Stellen seines Werkes, so etwa auch in dem berühmten Essay Die Großstädte und das Geistesleben von 1903, wiederholt Simmel eine zentrale methodische Überlegung. Hier heißt es, „dass sich von jedem Punkt an der Oberfläche des Daseins, so sehr er nur in und aus dieser erwachsen scheint, ein Senkblei in die Tiefe der Seelen schicken lässt […].“ (Simmel 1995, 120) 1916 beschreibt Simmel dann noch einmal deutlicher, dass er die Aufgabe seiner Philosophie darin sehe, von „dem einfach Gegebenen das Senkblei in die Schicht der letzten geistigen Bedeutsamkeiten zu schicken.“ (Simmel 1917, V) 

Für Simmel spielt es keine Rolle, wie oberflächlich, das heißt, unbeachtet, banal oder profan die Phänomene des Alltags scheinen mögen. Von ihnen aus, könne ein denkerisches Senkblei, wie an der Wasseroberfläche, in die Tiefe gelassen werden, um Rückschlüsse über den Grund und Verbindungen zwischen diesem und der Oberfläche zu ziehen. Im Großstadt-Essay etwa, betrachtet Simmel ganz alltägliche Phänomene wie Taschenuhren oder das Überqueren einer Straßenkreuzung, um von ihnen auf die tiefe seelische Konstitution der Großstädterinnen und Großstädter zu schließen.

Dass die Methode des Senkbleis zentral für Simmels soziologisches und philosophisches Verfahren ist, erkannte auch einer seiner berühmten Schüler. Der Kulturphilosoph, Kritiker und Journalist Siegfried Kracauer zitiert 1920 in seiner unveröffentlicht gebliebenen Simmel-Monographie dessen Rede vom Senkblei. Anerkennend schreibt Kracauer, Simmel dringe „von der Oberfläche der Dinge […] zu ihren geistigen Untergründen vor und zeigt, daß jene Oberfläche Symbolcharakter besitzt […].“ (Kracauer 1977a, 242) Kracauer ist von diesem Vorgehen stark beeinflusst und übernimmt das methodische Verfahren des Senkbleis in sein eigenes Schreiben. Standen bei Simmel jedoch die geistigen und seelischen Gründe des Menschen im Mittelpunkt des Interesses, fragt Kracauer in undogmatisch-marxistischer Manier oft auch nach der Konstitution der Gesellschaft, den Produktionsverhältnissen und ihrem Standort im historischen Prozess. 

In einem seiner bekanntesten und wichtigsten Essays der Weimarer Zeit, dem Ornament der Masse von 1927, wird dieser Ansatz konkret: „Der Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozeß einnimmt, ist aus der Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächenäußerungen schlagender zu bestimmen als aus den Urteilen der Epoche über sich selbst.“ (Kracauer 1977b, 50) Gerade der Beiläufigkeit wegen, mit der die Gesellschaft den oberflächigen Phänomenen begegnet, seien diese dazu geeignet, einen Zugang zu tieferen Schichten des Bestehenden zu eröffnen. „Der Grundgehalt einer Epoche und ihre unbeachteten Regungen erhellen sich wechselseitig“ (ebd.), schreibt Kracauer weiter und betont damit ein wichtiges Prinzip der Senkblei-Methode. Im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses steht nicht der Grund an sich, keine absolute und letzte Ursache, die in der Tiefe vermutet wird, sondern vielmehr die Verbindung, der Faden, der sich zwischen Oberfläche und Grund spannt und eine Relation beschreibt.   

Wie sich diese Methode in der Praxis der Kritik darstellt, verdeutlicht sich anhand von Kracauers feuilletonistischem Werk für die Frankfurter Zeitung. Sein analytischer Blick ist oftmals auf die Oberfläche der Gesellschaft gerichtet und stellt Phänomene scharf, die philosophisch sonst übersehen werden. Tanzrevuen, Detektivromane und Kolportagen, Freikörperkultur oder Hosenträger dienen ihm als Einlasspunkte für das Senkblei. Kurz gesagt: Kracauer kommt immer wieder vom Kleinsten ins ganz Große, von der Populärkultur zum historischen Stand der Gesellschaft, von der Oberfläche in die Tiefe. 

Dieses Verfahren, mit dem Simmel, Kracauer und natürlich könnten viele weitere genannt werden, eine philosophische terra incognita in den Blick nehmen, ließe sich auch als eine Art kulturwissenschaftliches Prinzip avant la lettre bezeichnen. Die Anerkennung, dass jedes noch so kleine und unbedeutend scheinende Fragment des Alltags einen Einstiegspunkt für das Senkblei und damit einen Erkenntnisweg in tiefere Schichten und Zusammenhänge bieten kann, ist, was die moderne Kulturwissenschaft unter anderem auszeichnet. Die Geste des Genau-Hinsehens, die Affinität für kleine Formen und Phänomene, der mikroskopische Blick. 

Alexander Kluge, angesprochen auf die Rolle der Neugierde in den Gesprächen mit Joseph Vogl, zitiert Kafka und spricht dann vom „Komplexitätsverdacht“, den man gegenüber der Welt hegen müsse. „Kafka schrieb einmal: Eigentlich ist die Einförmigkeit der Welt schwer erträglich. Noch eigentlicher aber ist die Welt ungemein mannigfaltig. Man muss nur eine Handvoll Welt nehmen und sie genauer ansehen.“ (Kluge/Vogl 2020, 9) So werden auch in diesem neuen Band der beiden Gesprächspartner oberflächige Phänomene eben nicht nur für sich betrachtet, sondern ihnen wird eine untergründige Verwurzelung und Verflechtung mit der Welt und der Geschichte unterstellt. In diesem Sinne sprechen Kluge und Vogl auch nicht bloß am Beispiel von Moby Dick über das Senkblei, sondern erheben die Formulierung zum Titel des Buches. Auf dem schlichten, weißen Cover spannen sich vereinzelte Vertikalen. Faden, Seile, Lotleinen, so scheint es, deren Gewichte im Verborgenen bleiben. Eine Abstraktion, die den Fokus des Verfahrens erneut auf die Relationen, nicht auf die Anfänge oder letzten Gründe richtet. 

So steht das einfache, jahrtausendealte Senkblei also auch hier für eine allgemeinere Methode. Eine Methode des Gesprächs, in der sich Kluge und Vogl an der Oberfläche treffen, sich an Zu- und Unfällen der Welt abarbeiten, den Boden vermessen und die Bleigewichte schließlich in unbekannte Tiefe hinablassen. Am Ende entstehen auf diese Weise vielschichtige Erzählungen, die nicht nur eine ungemeine Relevanz, sondern immer auch eine poetische Wirkung entfalten. Von Dr. Frankensteins Monster zu den Spitzen unruhiger Aktienkurse, von der Schule des Geldes, die den Dingen Beine macht, zu den abendländischen Problemen der Ich-Bildung, vom Silicon Valley zur Maschine der menschlichen Ratio und von Coronaviren als Außerirdische des gleichen Planeten zur Migrationspolitik der Europäischen Union. In diesem Buch entwickelt sich zwischen den Zeilen eine Form der dialogischen Kulturwissenschaft im besten Sinne, die sich mit dem Begriff, der Metapher und der Methode des Senkbleis selbst in eine reiche und tiefgehende, wenn auch zunächst unscheinbare, Erzählung einbringt.

„Senkblei der Geschichten“ ist 2020 im Diaphanes-Verlag erschienen.

 

Literatur

Kluge, Alexander/Vogl, Joseph (2020): Senkblei der Geschichten. Gespräche, Zürich.

Kracauer, Siegfried (1977a): Georg Simmel, in: Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt am Main, S. 209–248.

Kracauer, Siegfried (1977b): Das Ornament der Masse, in: Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt am Main, S. 50–63.

Nietzsche, Friedrich (2003): Morgenröte. Idyllen aus Messina. Die fröhliche Wissenschaft, Kritische Studienausgabe, München.

Simmel, Georg (1917): Rembrandt. Ein kunstphilosophischer Versuch, Leipzig.

Simmel, Georg (1995): Die Großstädte und das Geistesleben, in: Gesamtausgabe. Band 7.I: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Frankfurt am Main, S. 116–131.