6. März 2021

Der Irrweg

 

Lars hat sich von der schulischen Leistungsgesellschaft in die Parallelwelt der psychiatrischen Heil- und Pflegeanstalt von Linderstedt als vorgezogener Zivildienstleistender verabschiedet. Auslöser ist der allzu öffentliche Auftritt seiner alkohol- und beziehungskranken Mutter, einer Altenpflegerin aus einem tristen Neubaugebiet der Stadt, vor Lars und seinen Schulkameraden. Letztere machten ihm teils tatsächlich und teils imaginiert das bisherige Leben so unerträglich, dass einzig diese Flucht zu bleiben schien, die ihn so treffend in die Institution am Rande der Stadt führt. Sich selber als Randgestalt empfindend, entdeckt er diejenigen, die ebenso oder schlimmer dran sind, in den Rollen Betreuender und Betreuter, eingebettet in ihren ganz eigenen Hierarchien und Regeln. Ausgerechnet seine Mutter, die ihn zu diesem Schritt der Auszeit bewogen hat, ist in ihrem eigenen Grenzdasein ausersehen das Bindeglied zu einer unter der dünnen Oberfläche des Alltags schrecklichen Normalität zu sein. Auf der anderen Seite verlockt Hedwig, die sich als Brandstifterin pointiert am Statussymbol der Obrigkeit vergeht, ihr auf Pfaden zu folgen, die Lars' gesellschaftliche Entfremdung anscheinend unumkehrbar unter Verlust der ihm bisher geltenden normativen Barrieren vertiefen könnten.

Lechner hat den Raum, in den er seine Figur einschreibt, erlebt und füllt ihn, mit Vorhandenem spielend, mit neuen Elementen und Konstellationen. Dabei werden gesellschaftlich komplexe Fragen wie der Umgang mit und dieWahrnehmung von psychisch gekränkten Menschen, Sucht in der Familie und Angehörigenbelastung, die Problematik einer menschenwürdigen Altenversorgung, der hierarchische Bau der Arbeitswelt angesprochen bzw. angeschrieben. Letztlich steuern diese auf die Metafrage nach Normalität und Menschlichkeit zu. Der Protagonist reagiert rituell und/oder mit neurotisch anmutenden Strategien der Entlastung auf den Druck, der von umgebenden Menschen auf ihn ausgeübt wird. Die Anpassung seiner Deutungen und Spannungsverarbeitungen, seiner inneren Kommentierung der eigenen Lebenswirklichkeit und die Beschreibung einer ambivalenten Gefühlswelt führen von gesellschaftlicher Verpflichtung, systemischer und internalisierter Gängelung des Selbst wieder zum zutiefst Menschlichen; der individuellen Aufgabe Mensch zu sein und das eigene Leben zu deuten und zu gestalten. Dies spiegelt sich substantiell zum Inhalt zugehörig und diesem verbunden in der Sprache; Klang, Rhythmus, Bildwahl, Komposition des Textes – Konventionen werden umspielt, variiert und konterkariert. Der Autor leistet sich scheinbar Derbes, das eigentlich gar nicht derbe ist, sondern unverschleiert das, was als das Echte möglicherweise von vielen zeitgenössischen Protagonisten des Literaturbetriebs gesucht wird. Es geht bei Lechner bereits weiter – als wechselreiche Improvisation mit dem authentischen Material. Wer kann sagen, was dabei ein Irrweg sei?

Matthias Kulcke

 

Martin Lechner: Der Irrweg, Residenz Verlag 2021


https://www.residenzverlag.com/buch/der-irrweg