18. Januar 2021

Denken denken


Das Moskauer Strelka-Institut, unter der programmatischen Leitung von Benjamin Bratton, sieht sich zwar selbst in der Tradition der Häuser / Schulen Vkhutemas oder Bauhaus, ist aber im Gegensatz zu ihnen ein Think Tank, dementsprechend weniger an praktischen Aktionen oder Werken interessiert. Ihre Dokumentation The new Normal, in heutiger Zeit zu einem hyperrelevanten Begriff geworden, wenn nicht gar überholt durch anstürmende Realitäten, geht daher auf strikt theoretische Weise einem Output nach, der Probleme erkennt, sie angeht, aber nicht um hier direkte Lösungen anzubieten, sondern Wolken von Tools, aus denen dann others ihren Kit zusammenstellen könnten. Das ist bildlich (im Buch) reizvoll. Der Band erinnert an Medientheorie-Materialsammlungen, bleibt aber im Gesamtkonzept riskant, wenn nicht gar wischiwaschi, was eine auslegbare Zuordnung zu Praxis, Wissenschaft oder Kunst betrifft. Vermutlich eher ein Buch für Theoretiker zum Vorantheoretisieren, nicht aber ein Handwerkszeugbeutel für Realitätenklempner. Das Strelka-Institutsgebäude selbst erinnert an Messebauten des frühen Konstantin Melnikov, eine Moskva-Uferbebauung aus konstruktivistischen Pavillonzitaten. Auch die ausgewählten grafischen Repräsentationen sind um eine gemeinsame Ästhetik bemüht. Es gibt einen hohen Wiedererkennungswert in den wie Störbilder grob collagierten Collagen von Topografien & Interventionen. Doch ist diese Schule noch zu jung, um an ihren AbgängerInnen gemessen zu werden. Das mag noch kommen, und jede institutionell geförderte / abgesicherte Denke (non-profit) ist ein wichtiger Baustein. The new Normal allerdings noch etwas zu früh.

Jonis Hartmann


Strelka Institute: The new Normal, Park Books, Zürich 2020

https://www.park-books.com/index.php?pd=pb&lang=de&page=books&book=1216