31. Dezember 2020

Was für ein Jahr

 

 

Was für ein Jahr, sagt Urs Schlieper, was für ein Jahr, das glaubt man nicht, sagt er und rückt seine Brille wie ein Möbelstück zurecht, das näher an die Wand muss, ein Möbelstück, das sich unaufhörlich verschiebt, weil sein Gesicht ein Erdbebengesicht ist, eines, das unaufhörlich in Bewegung ist. 

Was für ein Jahr, wiederholt Urs Schlieper, um seine Entrüstung zum Ausdruck zu bringen, den hohen Grad seiner Entrüstung, und um es noch einmal zu sagen, wiederholt er es ein drittes Mal, was für ein Jahr.

2020, sagt seine Mutter, und Urs verdreht die Augen, Mensch, Mama, sagt er, das war doch keine Frage, das war eine Aussage, ich wollte damit, sagt Urs, meinen Unmut über das Jahr zum Ausdruck bringen.

Unmut?, fragt Mutter Schlieper, auf ihrem Schoß die Fernbedienung, die sie jeden Moment wie ein gealterter Revolverheld ziehen könnte, auf den Fernseher zielend, um das laufende Programm zu töten und ein anderes zum Leben zu erwecken. Eine Göttin, die solches vermag.  

Ja, Unmut, Mama, sagt Urs Schlieper, der ihr gegenüber in einem Sessel sitzt, in dem er wie in einem Moor versinkt. Es beginnt stets langsam, aber der Sessel zieht einen nach und nach tiefer nach unten, bis er einen verschluckt, bis er einen in die Sesselunterwelt zerrt.

Aber warum, sagt Mutter Schlieper, warum sagst du dann, was für ein Jahr? Das ist eine Frage, mein Junge. Was für ein Jahr? Und die Antwort lautet 2020.

Na, Mama, wenn das mal so einfach wäre, sagt Urs, wenn das mal die Antwort wäre, aber das ist sie nicht, die Antwort lautet nämlich: Pandemie, Corona, Scheiße.

Nicht solche Wörter, Urs, sagt Mutter Schlieper, das soll und darf es in ihrem Wohnzimmer nicht geben, nicht in ihrem Heiligtum, ihrer Kirche, obwohl sie auch gerne in der Küche sitzt, die ihr Dom ist, ja, in der sitzt sie noch lieber, andächtig dem blubbernden Wasser lauschend, das, wenn es aufkocht, auf seine ganz eigene Art mit ihr spricht.

Was soll ich nicht sagen?, fragt Urs, wohl wissend, das sie das Wort Scheiße meint, aber man darf ja mal blöd nachfragen und Mama damit auf die Palme bringen. 

Pandemie, du frecher Bursche, sagte Mama, das will ich hier nicht hören, das klingt so beschissen nach Weltuntergang, sagt sie und kichert, denn nun hat sie ihn vorgeführt, damit hat er nicht gerechnet, was er auch tatsächlich nicht hat, sodass er sie erstaunt anblickt, wieder seine Brille in die rechte Position schiebend.

Mama, sagt Urs Schlieper, und sie sagt, Urs, und beide sitzen da und denken, was für ein Jahr.   

 

Guido Rohm