12. Dezember 2020

Befremdliches Meisterwerk

 

Maria hat recht, s. Foto. Und es ist nicht zu hoch gelobt. Dieses Buch ist ein poetisches Meisterwerk. Poesie in Romanform. Es schwirrt von seinsbewussten Weisheiten, poetisch verlebendigt, verwirklicht im besten Sinne. Mariam Kühsel-Hussainis originelle Metaphern und Sinnbilder stimmen alle. Nach den ersten Seiten dachte ich, wie will sie diese Dichte und gleichzeitig den Seiltanz zwischen Historienroman, Recherchewissen, Fiktion, Privatem und Persönlichem durchhalten, ohne abzustürzen. Tatsächlich stürzt sie nie ab. »Tschudi« ist ein echtes Meisterwerk und doch befremdlich.

»Freie, kristalline Köpfe... in einer so öden, gleichklingenden ständig belehrenden harschen Gegenwart … in der die Bilder nicht selbstgefährdender sein könnten, dies zu krönen, indem wir sie finden ...« »... denn die Stadt wollte gigantischer sein als Klassizismus und Italien … Großgeschwüre anstelle von zarter Kraft und gebautem Empfinden.« »... von Blumen träumenden Teppich…« »… strafenden Gesichtsangriff.« »Da hatte Bode, der durchaus konzentrierten Geschmack besaß-aber eben gar kein Wunder war-…« »...dieses Höhere mit aller Macht aufzuhalten, es einzuhausen,…« »..den Hut in der Hand, in Gedanken begraben.« Das sind nur wenige Beispiele.

»Tschudi« kam im März raus. Plakate am Bahnhofskiosk Friedrichstraße kündigten die Erstausgabe an. Geworben wurde mit der Fräuleinwunder-Strategie, Mariam Kühsel-Hussainis Gesicht und (teilweise) Körper, als Blickfang. Dann der erste Lockdown. Unabhängig davon dachte ich, wen soll Hugo von Tschudi, Direktor der neuen Nationalgalerie von 1896 bis 1909, heute noch interessieren? Zugegeben, eine hoch dramatische Figur, mächtig und todkrank. Authentisch und zerfressen. Faszinierend und abstoßend (er leidet an Lupus erythematodes, der sogenannten Wolfskankheit). Mariam Kühsel-Hussaini setzt ihm mit diesem Buch ein Denkmal. Setzt ihn, ungeachtet seiner äußeren Widersprüche, groß und schön zusammen. Sie kreiert einen perfekten (im Kunstbetrieb und privat) reichen Liebhaber. Einen, der sich in den Dienst der Sache Kunst stellt. Sie verehrt ihn. Diese junge, offensichtlich schöne Frau (was auf Tschudis Ehefrau, wie auf Mariam zutrifft) verehrt seine natürlich Autorität im Als-ob-Feld der Kunst dermaßen, dass es einem als Leser schon peinlich sein kann. Aber sie tut gut daran, das zu tun. Auch, weil es heute ungewöhnlich ist, dass Frauen Männer dermaßen uneingeschränkt anhimmeln. Tschudis Gegenspieler sind der träge Wilhelm und der missgünstige Bode. Tschudi steht für einen Internationalismus, heißt der Freundschaft mit dem »Erzfeind« Frankreich und damit auch symbolisch für die Grenzenlosigkeit der Kunst.

Die (Kunst-)Geschichte war bereits geplündert. Die Briten und Franzosen hatten den Markt für Renaissance-Bilder, dem Nonplusultra westlicher Kulturleistung, leer gekauft. Das Fest war zu Ende. Deutschland kam zu spät. Bode klaubte noch einige Brocken, die letzten Krümmel, vom Tisch. Das Wettessen auf dem Bildermarkt war gelaufen. Mariam trifft genau diesen Punkt. Wilhelm II und Hugo Tschudi. Militär und Kulturnation. Gründerzeit und Nihilismus. Bröckelnde Autoritätsgläubigkeit an die Macht Gottes und seinem deutschen Stellvertreter Kaiser Wilhelm II einerseits. Anderseits der Glaube an eine durch Charme, Leidenschaft und Wissen verführende (Ausdrucks-)Welt. So viel Macht wie Tschudi hat heute kein einzelner Mann* mehr. Diesen Glauben gibt es so nicht mehr. Und doch scheint der nicht aus der Welt, der Glaube an die gute Autorität, die uns sagt, wo es langgeht, entgegen mächtiger (demokratisch-horizontaler) Strukturen. Eine Macht, von der wir uns gerne regieren lassen. Eine, der wir vertrauen und die uns in Ruhe unsere Arbeit machen lässt. Eine, die uns nicht ständig zwingt, uns zwischen Dash und Sil, Trump und Biden, Merz und Merkel, BMW und Audi, COS, H&M, Adidas oder Nike, Wilhelm und Weimar entscheiden zu müssen. Wenn das der Subtext des Buches ist – hmmmm. Ich weiß nicht. Aber tolle Künstlerin die Mariam Kühsel-Hussaini.

Christoph Bannat

Mariam Kühsel-Hussaini: Tschudi, Rowohlt 2020