19. September 2020

Referenzwert Blut

Die Holzschnitte von Gustave Dore illustrieren die „Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen“.

 

Für alle, die sich nicht nur von Virologen die Wirklichkeit erklären lassen wollen. Deren „Wege des Sozialen“ nicht einzig der Verschlusspolitik der Regierung folgen wollen. Für all jene, die nicht an eine alternativlose Zukunft glauben. Für die, die sich nicht dem inszenierten Schicksalsrauschen folgen. Die nicht nur zählen, sondern nachzählen und nachdenklich erzählen wollen. Für jene, die „neue Normalität“ als Drohung verstehen und die behauptete Alternativlosigkeit als Würgegriff. Für all jene ist dieser Reader ein Hoffnungsschimmer. Für jene, für die öffentliche Dauerbeschallung nicht nur Vorhölle, sondern bereits die Hölle ist, ist dieser Reader ein lichtes Moment besorgniserregender Ruhe.

„Die Corona-Gesellschaft, Analysen zur Lage und Perspektiven zur Zukunft“, herausgegeben von Karin Werner und Michael Volkmer, erschienen in der X-Texte zur Kultur und Gesellschafts-Reihe des transcripte Verlags. Erschienen im Juni/August 2020. 39 Beiträge von 39 Wissenschaftlern aus den Feldern Soziologie, Nachhaltigkeit, Geschichte und Philosophie. Wobei die Soziologie eindeutig überwiegt.

Erfreulich ist an der Corona-Krise, dass die Politik auf die Wissenschaft hört, enttäuschend dabei, dass nur Virologen deren Stichwortgeber sind.

Keiner der Wissenschaftler leugnet die Krise, doch viele wundern sich, wie plötzlich der Staat, der zuvor, bei anderen weltumspannenden Themen eher als handlungsunfähig oder mindestens als zögerlich galt, durchgreift.

Zizek- oder Sloterdijk-Revolution oder Transformation? Zum 150. Geburtstags Lenins kann man sich schon mal fragen, wie die Umgestaltung eines Gesellschaftssystems aussehen kann. Russland musste vom Agrarstaat in einen Industriestaat überführt werden. Heute haben wir eine ähnlich Situation. Der Kapitalismus muss in eine Nachhaltigkeitsgesellschaft transformiert oder revolutioniert werden. Den bis jetzt besten Kampfbegriff bildet die „sozialen Nachhaltigkeit“ (Klaus Dörre: „Corona: Keine Sprungbrett in eine Postwachstumsgesellschaft“). Den Begriff der „kapitalistischen Nachhaltigkeit“ hat noch keiner zu propagieren gewagt. Auch wenn mir zum Verwaltungsbegriff der soziale Nachhaltigkeit kein entsprechendes Ideal einfällt, könnte es irgendetwas mit Höflichkeit, Zuneigung und Achtsamkeit zu tun haben. Deutlich aber ist, dass es so nicht weitergehen kann, dass WIR uns Münchhausen-mäßig selbst aus dem Sumpf ziehen müssen. Doch das WIR ist nicht für alle gleich, auch wenn uns die Krise das oft erzählt. Alle Reader-Autorinnen betonen, dass das Weltproletariat, die Prekären und die die Klimabedrohten die Leidtragenden der Pandemie sind, und warnen vor einer „Humandifferenzierung“ (Stefan Hirschauer: „Pandemische Humandifferenzierung“) und weisen darauf hin, dass nicht alle gleich verwundbar sind. „Wir wissen das, aber wir wissen das anscheinend nur im medizinischen, nicht aber im dezidiert politischen Sinn“ (Jürgen Mannemann: „Gleichheit vor dem Virus!“). Es ist großartig, wenn Wissenschaftler sich um Verwundbarkeiten kümmern, während die Politiker die Sprache der Virologen von Gefährdern und Risikogruppen übernehmen. Womit alle, Schuldig-Unschuldigen, Alte und potenzielle Träger gemeint sind. So wird im Reader selbst auch die Sprach- und Zahlenpolitik analysiert. Es geht dabei um das „Potenzial des Tragischen im Feld der Politik“ (Jürgen Mannemann) oder die Pandemie als „Naturkatastrophe in Zeitlupe“ (wie von Christian Drosten beschrieben). Dies intelligente Kompendium lässt uns etwas Abstand nehmen vom medialen Betroffenheitskitsch. So erklärt Herfried Münkler geschichtsbewusst, „dass ist der erste Unterschied zwischen früher und jetzt: Weniger die Krankheit selbst, sondern die über sie kursierenden Vermutungen und Behauptungen sind von geopolitischer Bedeutung“ („Corona-Pandemie und Geopolitik“). Gleichzeitig hilft uns das Lesen, als „routinierten Katastrophenzuschauer“ (Stefan Hirschauer), uns nicht anstecken zu lassen, „Alle sind angesteckt von der Angst vor der Ansteckung …“, unsere wirkliche gesellschaftliche Position zu überdenken. Der Reader beruhigt und erregt. Das geht so nur in Buchform und kann als Gegenentwurf zum schnelllebigen Schreibgeschäft verstanden werden.

Hier erleben wir Schwarmintelligenz, keine schwärmerische, dafür beurteilen alle die Aussichten unserer kapitalistisch organisierten Gesellschaften zu düster. Wohl wissend, dass der Kapitalismus seinen Crash und seine Depression braucht, um sich zu generieren. Mit der Krise erleben wir auch das kapitalistische Paradox: dass er auch ohne Menschen auskommt, sein Referenzwert aber Blut ist, sonst bräuchte man ihn nicht erst nehmen.

Preisfrage: Was also ist die Bezahlung für (soziale) Nachhaltigkeit?

 

Christoph Bannat

 

„Die Corona-Gesellschaft, Analysen zur Lage und Perspektiven zur Zukunft“, herausgegeben von Karin Werner und Michael Volkmer, erschienen in der X-Texte zur Kultur und Gesellschafts-Reihe des transcripte Verlags. Erschienen im Juni/August 2020