5. August 2020

Argumentationshilfe für eine solidarischere Gesellschaft

 

Zwei Jahre ging ich gern zur Schule – das erste und das zweite, dann gab es Noten. Irgendwann drängten die Lehrer meine Eltern, mich doch aufs Gymnasium zu schicken. Hätten sie auch gern, doch der Junge machte nicht gern Schularbeiten. Denn sollte ich, so hatte ich die unrühmliche Methode meinen Kopf so lange gegen den Türrahmen zu schlagen, bis mir diese Pflicht erlassen wurde. Diese Methode, der Kopf war heilig in unserer Familie und Schlägereien wurden von außen beendet, sobald der Kopf beteiligt war, mag meine heutige Komma- und Rechtschreibschwäche entschuldigen. Das dafür zuständige Areal im Kopf hat wohl etwas abbekommen. Jetzt versuche ich mich mit Glaubwürdigkeit, Authentizität und Originalität durchs Leben zu schlagen. Der Schrift ganz aus dem Weg zu gehen war allerdings, eine Zeit lang hatte ich mich auf Bilder spezialisiert, mir nicht möglich, aber die Sucht zu schreiben, außerdem ein Standbein in der Wirklichkeit, hatte mich zu fest im Griff, musste ich mir gestehen.

Oft frage ich mich, ob es mir als gelernter Drucker (später diplomierter Künstler) wirklich zusteht, Dissertationen, diese emotionsgeladenen Links auf den Berufspfaden, zu besprechen? Rezensionsexemplare, die ich über den transcript-Verlag beziehe. Deshalb versuche ich mich in meinen Texten gesellschaftlich, als Arbeiter und Künstler, zu positionieren. Jetzt ist eine Art freies Kompendium, „Vom Arbeiterkind zur Professur“ – sozialer Aufstieg in den Wissenschaften, in der Verlagsreihe Gesellschaft der Unterschiede bei transcript herausgekommen. Ich bin begeistert über dieses wichtige Buch. Dafür danke dem transcript-Verlag und Gustav Mechlenburg von Textem der Kommas wegen.

Mein älterer Bruder durfte, einer reicht, studieren. Ich machte eine Lehre, meine Schwester wurde Bäuerin. Damit waren in unserer Familie alle Gesellschaftsschichten abgedeckt.

Im Ernst; dies Sachbuch ist herzergreifend und macht Hoffnung. Auch wenn die Hoffnung, wissenschaftlich, wie im Buch beschrieben, nicht begründet ist. Nach dem Pisa-Schock (2000) wurde die schichten(warum nicht wieder von Klassen sprechen)übergreifende Bildungssituation etwas besser, um sich die letzten zwei Jahre wieder zu verschlechtern. Das heißt, Haushalte mit akademischen Abschluss reproduzieren Kinder mit akademischen Abschlüssen.

„Vom Arbeiterkind zur Professur“ besteht zu einer Hälfte aus wissenschaftlichen Analysen, zur anderen aus autobiografischen Erzählungen von Professor*innen mit unterschiedlichem biografischen Hintergrund sowie Migrationserfahrungen. Dabei gehen die Buchautoren nicht in die Falle, da ja alle Erzähler*innen ihre Professur haben, nur Erfolgsgeschichten zu erzählen. Das machen sie, indem sie auch von den, oft lebenslangen, Ängsten, von Scham und Sorge im Zusammenhang mit der Herkunft erzählen. Auch Annie Ernaux wusste, dass es ein Leben lang braucht, sich vom den Schuldgefühl, seine Klasse verlassen zu haben, zu befreien. Allein das Sprechen über solche Gefühle wirkt für eine sentimentale Gefühlsnudel wie mich so herzerweichend, dass man schnell das Politische dahinter vergisst. Doch es wird auf den ersten Seiten klar gesagt, dass wir uns von dem Mythos, dass Bildung etwas mit Intelligenz zu tun hat, zu verabschieden haben. Und dass wir uns, auch in kleinsten zwischenmenschlichen und in größeren Zusammenhängen vernetzend, in Solidarität üben müssen, um Klassengräben zu überwinden. Aussagen, die eine allein auf Konkurrenz-, Kapital- und Klassenunterschieden gebaute Gesellschaft infrage stellen. Mit diesem Buch wird die 80er-Jahre-Erzählung, die uns weismachen will, dass sich die Klassenunterschiede zunehmend nivellieren, auch Dank eines durchlässigen Bildungssystems, in dem sich lebenslanges Lernen und Leistung für jeden lohnt, Lügen gestraft. Heute erfahren wir das Gegenteil. Im Buch wird das wissenschaftlich belegt. So dient das Buch auch als Argumentationshilfe für eine solidarischere Gesellschaft.

Mit Unterstützung bekannter Schutzheiliger, Pierre Bourdieu, Didier Eribon und Annie Ernaux, sagt das Buch aber auch, wie wichtig das Mitdenken und Erzählen der eigenen Herkunft, nicht nur im wissenschaftlichen Kontext, ist. Dass die Professoren*innen, denen der Status unangreifbar Wissender anhaftet, sich erzählerisch öffnen, ist ihnen unschätzbar hoch an zu rechnen.

Bedenkt man, wie viele Lehrerhaushalte es gibt, und denkt sich in jeden nur ein Buch, dürfte „Vom Arbeiterkind zur Professur“ ein Bestseller werden. Das wünsche ich den Autoren.

Christoph Bannat

 

Julia Reuter / Markus Gamper / Christina Möller / Frerk Blome (Hg.): Vom Arbeiterkind zur Professur. Sozialer Aufstieg in der Wissenschaft. Autobiographische Notizen und soziobiographische Analysen

transcript Verlag 2020, 438 Seiten

ISBN: 978-3-8376-4778-5