26. April 2020

Unter Wasser atmen

 

Mit „Chelsea Girls“ liegt endlich ein Band der New Yorker Ikone Eileen Myles in deutscher Übersetzung vor. Chelsea Girls, von 1994 im Original, ist eine wilde Sammlung kürzerer bis längerer Storys, die fast alle die Autorin selbst zum Sujet haben. Erinnerungen, Gefühlsräume, Begegnungen zeichnen so etwas wie einen „Werdegang“ der unbeirrbaren Künstlerin nach, von schulischen Zeiten, unterm Daumen des Alkoholismus, Woodstocks Erwachen, Jobs, Joints und mehr bis zum Shooting bei Mapplethorpe, Buchpremieren und der Gang der Mittreibenden.

Interessant an dem flüssig zu lesenden Buch ist, dass Myles bis auf wenige Ausnahmen überhaupt keine stilistische Gestaltung einfließen lässt. Die Texte sind derart unverhohlen mündlich, als ob sie neben einem säße und das Ganze „mal eben so“ am Tresen oder in der Küche zwischen ein paar Salaten „raushaut“. Es fließt auf diese Weise ein intimes Porträt der Dichterin zusammen, das letzten Endes eine eigene Gattung aus Rotzigkeit, Menschenkenntnis und cool-distanziertem Zeitgeistpanorama auftischt. Myles kann zugleich so unfassbar treffend, überheblich, witzig und erfahren über Queer-Leben / Kunstmachen in allen Verwerfungen seit den 60er Jahren schreiben, dass man ihr einfach gern folgt. Besonders das eigene Erwachen als selbstbewusste Stimme aus einer zunächst unsicheren „Unterwasserhaltung“, von Underground zur Profession, wirkt, ohne dass an irgendeiner Stelle nostalgisch zurückgeblickt wird, sehr glaubhaft. Die Kämpfe mit der Familie, Substanzen, Bürgerlichkeit sind omnipräsent, zum Teil auch inspirierend. Myles verurteilt nicht, sie weiß um ihre Stellung.

Es bleibt noch zu wünschen, dass endlich auch Eileen Myles Kerngebiet, die Dichtung, hierzulande veröffentlicht wird. Ein paar wenige Einschübe aus ihren Gedichten sind bereits in „Chelsea Girls“ enthalten, meist an ironischen Stellen.

 

Jonis Hartmann

 

Eileen Myles: Chelsea Girls, Matthes Seitz Berlin 2020

https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/chelsea-girls.html?lid=1