19. April 2020

Stets zur Splitterung bereit

 

„Schiefern“, der lang erwartete neue Gedichtband von Esther Kinsky, kürzlich bei Suhrkamp erschienen, beschäftigt sich mit Visionen des Erinnerns. Ganz konkret den Schichtungen des Schiefergesteins, sichtbar durch ihren Abbau, aber auch ihrer Erosion auf den Slate Islands. Diese namensgebende Inselgruppe vor der Küste Schottlands bei den Inneren Hebriden war lange ein Hauptabbaugebiet jenes schnell splitternden Gesteins. Kinsky bereist in drei Abschnitten jene Inseln aus Moment und Erinnerung. Kombiniert mit Fotos und in der Hauptsache Stimmen (hiesige SchülerInnen der Vergangenheit aus den Fotos, BewohnerInnen von jetzt, damals etc.) nebst einer eigenen lyrischen Ich-Anwesenheit versucht der Band, eine Art sprachliches Inventar der verschiedenen Erinnerungszustände zu geben. Beschreibend sowohl Optik wie auch das Netzwerk der inneren Momente – stets angelehnt an die Metaphorik wie auch die Phänomenologie jenes Schieferns.

Der Mittelteil aus jenen Stimmen und jeweils quer dazu zwei waagerechten, über mehrere Seiten laufenden Schleifenversen scheint der weitestgehende Versuch zu sein, einen textgrafischen Grenzmoment zu sprengen und seinerseits „Zersplitterung“ sprachlich auszudrücken. Er ist sehr gelungen. Wohingegen einem beim Lesen der beiden rahmenden Abschnitte des insgesamt eher bemüht und konstruiert wirkenden Bandes nicht unbedingt eine sprachliche Emanzipation gegenüber des Vorhabens anspringt. Es häufen sich lustvoll adjektivische Überbeschreibungen, etwas bieder geratene Neologismen zu einer letztlich zwar ausgewogenen, aber doch hinter den Möglichkeiten von lyrischer Sprache bleibenden Reisegedichtsammlung zu einem interessanten, allerdings unstillbaren Ort, der auf seinem Thron sitzen bleibt. „Schiefern“ ist ein wenig zu abschließbar geraten.

 

Jonis Hartmann

 

Esther Kinsky: Schiefern, Suhrkamp, Berlin 2020

https://www.suhrkamp.de/buecher/schiefern-esther_kinsky_42921.html