15. April 2020

Explosion des Sehens

 

Das Musée de l’Elysée in Lausanne hat einen Katalog nicht nur zum fotografischen Werk des legendären Magnum-Fotografen René Burri herausgegeben. Es zeigt erstmals auch dessen Zeichnungen, Collagen und Grafiken in gebündelter Form, präsentiert mitsamt einigen Klassiker-Bildern von Reisen in alle Weltteile seit den 1950er Jahren. Dabei kommt Burris Arbeitsweise, die dem grafischen von vornherein stärker verpflichtet ist als der „perfekten Momentaufnahme“, sprich näher der nachträglichen Kadrierung oder sinnstiftendem Neuarrangement steht.

Natürlich fehlen Ché Guevaras Porträts ebenso wenig wie die Aufnahmen aus „Die Deutschen“, aber auch Burris bekannte Dokumentationen von Architektur der Moderne von Brasília bis Luís Barragán kommen vor. Ausstellungsaufnahmen wie Selbstporträts ergänzen den Fundus in verschiedenen Bildformaten.

Als besonders gelungen scheinen die Farbaufnahmen, deren Burri sich etwas später, seit den 70er Jahren, zugewandt hat. Hier sind die unwirklichen Vordergrundbausche, wie Blüten oder Wäsche, die das eigentliche Bildgeschehen im Hintergrund auf abstrakte Weise relativieren wie unter Pillen, oder die Spiegelungsaufnahmen in den Autorückspiegeln auf ansonsten eigenschaftslosen Straßen, sehr effektvolle Operationen.

Ebenfalls in sich hat es die eigentümliche Marken- oder Produktverwendung Burris. Entweder sind es technische Geräte, die mit dem Zaunpfahl auf die Entstehungszeit des entsprechenden Bildes hinweisen, in Händen der Abgebildeten oder die bewusste Staffage auf Straßen oder Einrichtungen in den Wohnungen. Am liebsten als Objekt: der Fernseher in verschiedenen Bildkondensaten. Vorzüglich die spontan im Hotelzimmerfernseher, mit entsprechendem Mobiliar, aufgenommenen Bilder der Abdankungsrede des Umstrittene-Präsidenten-Pioniers Richard Nixon mit „televerzerrter Fresse“ erzählen eine ganze Epoche.

Tatsächlich sind mithin die zeichnerischen Arbeiten Burris im Vergleich weniger direkt und klar. Auch die Übermalungen oder nachträglichen analogen Stiftverwendungen sind effektärmer. Burri bleibt Fotograf.

Jonis Hartmann

 

René Burri: Explosion des Sehens, Scheidegger Spiess Zürich 2020