29. März 2020

Super-GAU

 

Am Anfang steht eine Computertomografie. Sie soll eine Erklärung für die zunehmende geistige Zerrüttung des (möglicherweise fiktiven) Hannes Weckerling geben, die ihm selbst wie der kürzlich beschrittene Weg in den Wahnsinn vorkommt. Weckerling ist Autor und verliert Worte – Sprachausfälle, bunte Blitze und Schlieren, Dämmerung, Dunkelheit. Gedächtnislücken. Krampfanfall. DRUCK. Auf die beruhigende Vermutung »Migräne mit Aura« folgt die Gewissheit: Tennisball großer Tumor am Hippocampus, dem Teil des Gehirns, der für das Bilden neuer Erinnerungen, für alle Arten des Lernens zuständig ist. 

»Tja, Herr Weckerling ... worst case.«

 

Der Hirnroman ist ein Gefüge aus persönlichen Notizen Weckerlings, anmoderiert und geordnet von einem ominösen Herausgeber, (teilweise rührenden) E-Mail-Korrespondenzen mit Freunden und Kollegen und den Beobachtungen eines gewissen Dr. Helmut Poweleit, seines Zeichens Psycholinguist und Zyniker, spezialisiert auf die neuronale Wechselbeziehung von Sprache und Erinnerung. Es entsteht das diffuse Bild eines Menschen, der sich einer immer abgründigeren Introspektion hingibt, die schwindelig macht. Andere Menschen rücken aus dem Blickfeld und wieder hinein, sind Anker und dann wieder bloß weit entfernte Referenzpunkte. Weckerling aber ist Gefangener in seinem eigenen Kopf, Prüfling und Prüfer in einem nie enden wollenden Intelligenztest, eifriger Hüter seines Wortschatzes und vergesslicher Chronist des eigenen Lebens. Sind diese geistigen Zentrifugalkräfte eine physische Konsequenz der erlittenen Hirnschäden, sind sie der Wahnsinn, den nur andauernde Todesangst hervorrufen kann? Oder waren sie schon immer da? 

 

Wann Weckerling selbst spricht und wann über ihn gesprochen wird, lässt Dietrich zur Nedden über weite Strecken des Romans offen. Das Ich wird ins Auge gefasst und verschwimmt wieder. Es verschwindet unter Stapeln von Krankenakten und verblasst während Motivationsseminaren im Reha-Zentrum. Es kreist um sich selbst und versucht verzweifelt, sich zu erkennen, in Sicherheit zu wissen und zurückzukehren.

 

Die Krankheit als Super-GAU. Feuer in der Schaltzentrale. Materialversagen. Menschliches Versagen. Aber ist die Krankheit der Super-GAU oder ist es das Leben?

 

Frederike Niebuhr

 

Dietrich zur Nedden: »Diesseits. Ein Hirnroman«, zu Klampen 2020, 20 Euro

https://zuklampen.de/buecher/belletristik/romane/bk/949-diesseits.html