1. Februar 2020

„Nah am Leben“

1. Hintergrund nach Johann Gottfried Shadow (Mastermodell 1871).
2. Nach Polyklet, Ende 5. Jahrhundert v.u.Z. (Mastermodell 1871)
3. Nach Büste des Antinoos, eine solche befand sich Goethehaus Weimar um 1900.
4. Gipsabguss Pompeiji, sitzender Mann, Kettenhund sowie Totenmasken.
5. Ganzkörperabguss eines Mannes namens N´Kurui, 1906, Formnummer 4307.
6. Teresa Magolles, Catafalco, 1997.

 

 

„Nah am Leben“ ist eine kleine, großartige, feine Ausstellung der Berliner Gipsformerei. Dabei übersieht man sie leicht, befindet sie doch seitlich vom Durchgang zum Ägyptischen Museum, der neuen James-Simon-Galerie.

 

„Der König begehrt keine Morgengabe, nur hundert Vorhäute von den Philistern, daß man sich räche an des Königs Feinden. Denn Saul trachtete David zu fällen durch der Philister Hand.“* In der Ausstellung zum 200-jährigen Bestehen, übrigens die älteste Sammlung Berlins, durchläuft man die Gefühlsfelder: Politik, Schönheit, Sex und Tod. Welche Ausstellung bietet einem diese in solche einer Dichte? Skulpturale Fragen zum Tod als Hohlform des Lebens und der Auferstehung in Form von Abgusskopien am Beispiel Pompejis. Wir erfahren, dass Giorgio Vasari die Verteidigung der unter Abgussverdacht stehenden David-Skulptur von Donatello vor der Qualitätsfrage: Kunst versus naturschön übernahm. Wir begegnen der politischen Frage, ob steinerne Vorhäuten als Propaganda des Christentums gelesen werden können. Im Kopf die „Erfindung der klassischen Antike“ (im Alten Museum, der Antikensammlung, gleich nebenan als Dauerausstellung zu erleben), als rein, weiß und idealtypisch-schön. Heute wissen wir, dass die griechischen Skulpturen farbig gewesen sind. Eine Ausstellung im Liebieghaus in Frankfurt zeigt das zurzeit. Hoffentlich waren sie nicht so stumpfsinnigen bunt, dem Malen nach Zahlen gleich, wie dort zu sehen, sondern von lebendiger Farbigkeit. Die „Erfindung der Antike“ durch den Klassizismus diente eben auch als Rechtfertigung großer „Kulturnationen“ für Kolonialismus und Rassismus. Die Metaphorik von rein und im Besitz des Schönheitsideals verleitet dazu, sich als Höhepunkt der Schöpfung mit dem Auftrag den Rest der Welt zu kultivieren, zu betrachten. Vielleicht gefallen uns die angeschlagenen antiken Skulpturen so gut, weil sie uns sagen, dass es das reine Leben nicht gibt. Was aber kein Problem dieser Ausstellung ist, denn fast alle Skulpturen der Ausstellung sind weder weiß noch rein, sondern Schellack-gebräunt, zusammengestückelt, farbig nachempfundene Fakes oder sichtbar collagiert. Die Abgüsse geben zu denken und nehmen einen gleichzeitig emotional in die Zange. Mit den Lebendabgüssen von schwarzen Afrikanern, zu rassistisch konnotierten Wissenschaftszwecken, gefertigt auf Forschungsreisen oder Menschenausstellungen zur Wende des 20. Jahrhunderts, zeigt die Ausstellung ein hochgradig sensibles Feld der Gipsformerei. Und zeigt gleich auch den Lösungsansatz, wie man kein zweites Mal, diesmal im Sinne der Aufklärung, diese Menschen missbraucht. So wird den zunächst nur mit Nummern versehenen Personen erstmals wieder ein Name (im Katalog rot hervorgehoben) zugeordnet und eine zweite „Traumatisierung“, denn die Abgussfertigung war, wie von den Opfern beschrieben, traumatisch, umgangen, indem man hier nur noch die geschlossenen Formen zeigt. So kann die Ausstellung auch als ein möglicher Vorschlag im Umgang mit Restitutionsansprüchen, eine asketische Form des freiwilligem Bilderverbots von Kolonialgütern betrachtet werden, ohne dabei zu verstummen. Hier wird einem die Gier der Sammlungen des 19. und 20. Jahrhundert, und in der Zeit sind die meisten Museen entstanden, nach Original- und authentischem Material deutlich. Manchmal denkt man bei den Abgüssen, rein formal, an eine Art dreidimensionaler Fotografie. Nur ist diese Ausstellung so krude, körperlich- und gerümmpeliger, als es je ein Fotoausstellung sein könnte. Gleichzeitig werden die Skulpturen von kurzweiligen Begleittexte verortet. Und selbst die moderne Kunst passt hier, wie seltenst gesehen, als Kommentar. Duchamps weibliches Feigenblatt, Asta Grötings „Berliner Einschusslöcher“, Pauline M’bareks Hand-Werk betonte Momentaufnahmen, George Segals geisthaft-raue Gestalten und Teresa Margolles’ Opferserie aus einem mexikanischen Autopsiesaal. Gipsformerei gibt es nachweislich seit dem 14. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Im 19. Jahrhundert erlebte sie ihren kommerziellen Höhepunkt in Europa. Die Ausstellung öffnet viele Denkräume, von denen hier nur einige angerissen wurden, und bindet sie emotional – was will man mehr von der bildenden Kunst im Zeitalter der Aufklärung?

 

 

Christoph Bannat

 

 

* Samuel 18, 24. altes Testament.

https://bibeltext.com/1_samuel/18-25.htm

 


»Nah am Leben«, James-Simon-Galerie

200 Jahre Gipsformerei

30.08.2019 bis 01.03.2020


https://www.smb.museum/ausstellungen/detail/nah-am-leben.html

 

 

Liebieghaus, Skulpturensammlung, Frankfurt.

BUNTE GÖTTER – GOLDEN EDITION

DIE FARBEN DER ANTIKE

30.1. – 30.8.2020

https://www.liebieghaus.de/de/ausstellungen/bunte-goetter-golden-edition