7. September 2019

Tom Hallers Nuggets

 

Im Begleittext schreibt Christian Seiler: "Amerika ist ein Land ohne Menschen. Amerikas Flirt mit seiner Auflösung. Amerika träumt die eigene Vergangenheit. Das wahre Amerika befindet sich hinter dem Horizont."

Diese Notizen, entstanden beim Betrachten der Fotografien Tom Hallers (aus über 30 Jahren Amerikareisen), leiten Hallers neuen Band "Nuggets" ein. Seiler bespricht die Schwierigkeiten, bei der Betrachtung nicht in Klischees abzugleiten, wie beispielsweise ständig an Ry Cooders Musik denken zu müssen, oder Vorreiter wie Ansel Adams aufgerufen zu sehen. Stattdessen bringt Seiler den Vergleich zu Philip Glass' Musik, was ein interessanter Tipp ist. Repetitiv geometrisch sind Hallers Fotografien gewiss auch, in ihrer kompositorischen Wiederkehr von wie vor Wolken verschwommenen oder tragisch klar abgelichteten menschenlosen Szenarios on the road. Unbewegt und eine gesuchte, sichtbare Leere, die in ihrer vorgefundenen Farblichkeit vielleicht ein wenig an Eggleston erinnert, gleichwohl weniger vordergründig im Bild agiert, als denn tatsächlich "zwischen den Zeilen Amerikas" stattfindet, wie Seiler seinen Aufsatz übertitelt.

Die vorgefundenen Architekturen, die in ihrer (ehemaligen) Werbewirksamkeit einmal mehr Robert Venturis "Learning from las Vegas" illustrieren, sind stets innerhalb ihrer landschaftlichen Kontexte zu sehen. Was sie umso irrealer macht, denn Hallers bevorzugte Landschaften sind kahle Berge, Wüsten oder halb trockene Ex-Weiden. Haller vermeidet den Pathos und die allzu offensichtliche Tristesse: Immer wieder schieben sich optimistische Porträts von Büffeln oder morgendlichem Grasland in die Kette von menschlich versifften Orten. Doch die Serie der Bilder mit eingezäunten Zonen, das häufigste Motiv, läuft ein wenig parallel dazu. Das Thema Zäune als blinder gewaltvoller Akt gegen Mensch und Natur wirkt in der Verlassenheit noch viel drastischer. Sportplätze, Car-Parks und Kleinflughäfen, die Haller im Nirgendwo aufgespürt hat, dokumentieren die Unfähigkeit gewisser menschlicher Unterfangen, hinter sich zu schauen. Leaving no traces wird hier zu leave as much as you can. So wird die letztlich fragile Poesie auch solcher Bilder zu einem giftigen Nugget, wiewohl das Wort Nugget selbst nur in Teilen überhaupt werthaltig ist, oder nur im Auge einiger.

Was Tom Hallers Nuggets, neben den ausgewogenen Momentkompositionen, interessant macht, ist, dass sie auf dem gesamten US-Kontinent aufgenommen sind. Nicht nur in den Klassikerzonen Kaliforniens. Das Zwischen-den-Zeilen ist ein gesamt zu sehendes "Konzept" Amerikas, es spielt keine Rolle, ob in Utah oder Louisiana. Hallers Dokumentation ist somit auch als vergleichende Anatomiestunde eines Landes zu verstehen, dessen Unterschiede weniger in den Objekten liegen als in den breitengradlich-jahreszeitlichen Lichtsituationen.

Jonis Hartmann

Tom Haller: Nuggets. Scheidegger Spiess. Zürich 2019