4. März 2019

Wie in einer Winternacht

 

Eine Kurzgeschichte von Giorgi Ghambashidze  

 

Es ist Mitte Sommer, und es wird nicht mehr lange dauern, bis er zu Ende ist. Noch ein Sommer, noch ein Jahr, noch ein Ich und noch eine Welt...

Ich sitze in meinem Lieblingscafe in der Altstadt Hamelns und beobachte die jugendlichen Passanten, die mich entweder gar nicht beachten oder mir einen kalten, geringschätzigen Blick zuwerfen, der mir sagt, dass ich wie ein uninteressanter Steuerberater aussehe. Wenn sie nur wüssten, wie ich mich nach der Jugend sehne –nicht nach ihrer, sie sollten ihre selber genießen –, sondern nach meiner, die schon längst über alle Berge ist. 

Ich schaue mir in Ruhe die Pflasterwege um mich herum an. Sie sind voller angeklebter Kaugummis und plattgetretener Zigarettenkippen, die dieser wünderschönen Umgebung, in der ich mich am wohlsten fühle, einen schlechten Nachgeschmack des menschlichen Daseins verleihen. Jedes Stück Müll erzählt mir die Geschichte eines Lebens, in der es keinen Platz für Verantwortungsgefühl oder keine Liebe zu dieser Welt gibt. Vielleicht ist das Herz eines solchen Individuums sogar mit entsetzlichem Hass erfüllt, der es zwingt, so und nicht anders zu handeln. Ich kann daraus einen gewissen Protest –gegen die Gesellschaft, gegen Gott oder sich selbst –ablesen. Es gibt genügend Gründe zu protestieren, genau wie ausreichend andere Methoden es zu tun, und die Wahl dieser Menschen, deren schmutzigen Klageruf ich wahrnehmen kann, macht mich sehr traurig.

Weil es hier viele Restaurants gibt, sind jede Menge Tauben zugegen, die in der Hoffnung nach einer fettigen oder süßen Mahlzeit hin- und herhuschen und Menschen mit kleinen, aber eindeutig bittenden Augen anschauen. Sie tragen eine ständige Erwartung in sich, der meistens nur eine kalte Ablehnung entgegenkommt, aber hin und wieder passiert es, dass ein Menschenwesen sich ausnahmsweise für Barmherzigkeit entscheidet, und diese Entschlossenheit zeichnet sich durch einen Wurf eines kleinen Stücks von Brötchen oder Kuchen ab. Zur Verteidigung meiner Rasse muss ich mit großer Freude betonen, dass ich ziemlich oft Augenzeuge eines solchen Moments werde. Der Anblick dieser Krümel pickenden Stadtvögel erwärmt mir das Herz. Besonders im Winter, wenn es in unserem Land so kalt ist, dass man von einem Sommer wie von einem verlorenen Paradies träumt, sind diese armen Tiere erschreckend auf uns und unsere Entscheidungen angewiesen. Mir ist schon längst aufgefallen, dass sehr viele Tauben an ihren Füßchen verkrüppelt sind. Liegt es an unserer übermäßigen Bosheit, an ihrer tollpatschigen Natur oder an ihrem harten Schicksal, dass sie so viel Unbehagen, Schmerz und Gewalt erleben müssen? Und trotz allem, was ihnen geschieht, können sie fliegen, und dafür beneide ich sie. Das ist ein Privileg, das man ihnen gönnen muss! Sie haben Glück im Unglück.

Meine bekannte Kellnerin bringt mir, wie immer freundlich lächelnd, eine Tasse Cappuccino. Ich kenne sie schon lange, ich bin Stammgast hier, und ich muss zugeben, dass ich es größtenteils ihretwegen bin. Ihre Haare sind schwarz wie eine mondlose, wolkige Nacht in einem Urwald, ihre Augen grau wie Quecksilber unter einem blauen Himmel im Gebirge, ihre Nase ist schmal und gerade wie ein Sonnenstrahl, der durch die Regenwolken hindurchdrängt, ihre vollen, dunkelrosa Lippen sind wie von ständigen, leidenschaftlichen Küssen und Bissen aufgesprungen, ihr Hals ist lang wie der eines sehr jungen Schwans, ihre Schultern sind zart und zerbrechlich wie eine Statue aus Glas, ihre Brüste stramm und fest wie zwei Honigmelonen, ihre Beine kräftig und schön zugleich wie zwei Birken auf einem breiten Feld während eines warmen Windes im Frühling. Ihr Duft versetzt mich in den vor langer Zeit verschwundenen Orient, wo ich vielleicht in einem meiner vielen Leben gewesen bin. Die Erinnerung an etwas Wichtiges, die mich sowohl schmerzt als auch erfreut. Eine Mischung der Gefühle, die nur Liebe hervorzurufen vermag.

Sie weiß nicht, was ich von ihr halte, und es ist besser so. Meine bittere Erfahrung sagt mir, dass ich sie durch meine Offenbarung nur abschrecken würde und zwischen uns peinliche Begegnungen entstehen würden, die nur durch einen Lokalwechsel von mir oder ihre Kündigung vermieden werden könnten. Ich will sie nicht verlieren, deswegen werde ich gar nicht versuchen sie zu haben, obwohl es eigentlich aussichtslos ist, jemanden wirklich zu haben.

Wir halten unser tägliches Gespräch, sie macht ihre Arbeit weiter, ab und zu schaut sie nach mir, ob mir etwas fehlt, ich spüre ihren Blick wie die Berührung eines Schmetterlings, nicke ihr zufrieden zu und vertiefe mich in mein Buch, bis mir die Augen wehtun, dann suche ich sie in der Tiefe des Cafes oder sehe sie zwischen den Tischen mit einem Tablett laufen oder mit einem anderen Gast reden, und ich muss immer wieder zu meiner enormen Enttäuschung verkünden, dass sie fast mit allen Gästen so warm umgeht wie mit mir.

Ich versuche mir einzureden, dass sich ein Unterschied in ihren Augen bemerkbar macht, wenn sie mich anlächelt. Es ist eine schlechte Angewohnheit, sich anzulügen, aber sie hilft weiter zu machen.

Vielleicht erinnere ich sie an ihren zu früh verstorbenen Vater, von dem sie mir eines Tages erzählt hat, als sie so gut wie nichts zu tun hatte und sah, dass ich ein Buch über den Tod las, oder ähnle ich einem ihrer Schullehrer, der immer gut zu ihr war. Dass sie mich wie einen Partner bewertet, ist völlig ausgeschlossen. Ich kann mir weiter einbilden, dass sich zwischen uns eine knisternde Spannung aufbaut, aber es ist nur ich, der hier wie ein alter Holzfußboden in einem verlassenen Haus von sich alleine knistert, und zwar jedes Mal, wenn sie mit ihrem graziösen Gang vorbeigeht und einen süßen Schleier ihres Dufts hinterlässt. Sie ist wie ein Komet, den ich nur aus der Ferne betrachten und bewundern kann.

Ich kehre wieder zu meinem Buch zurück, wo ich mich sicher fühle. Der Verfasser ist seit über hundert Jahren tot, aber ich kann mich mit ihm besser unterhalten als mit den anderen, die mich umgeben. Es besteht keine Gefahr, dass er mich auslacht, beleidigt oder verletzt. Ich höre ihm zu, und als Zeichen seiner Dankbarkeit darf ich ihm meine Gedanken wie einen Korb mit Brombeeren ausbreiten, ohne Angst zu haben, dass er sich gründlich räuspert und da reinspuckt.

Gegenseitiger Respekt ist etwas, woran es heutzutage sehr mangelt. Uns wird ständig gesagt, dass wir uns immer weiterentwickeln, aber alles was ich sehe ist, dass wir die von uns erschaffenen Maschinen verbessern, wobei wir uns selbst in konstanter und schneller werdender Degeneration befinden. Alles, was uns in guter Hinsicht als Menschen ausmacht, verblasst und stirbt Fetzen für Fetzen ab. Stück für Stück nähern wir uns unserem geistigen und seelischen Tod. 

Ich lege das Buch zur Seite, auf einmal macht es mich deprimierter, als ich es gewohnt bin zu sein. Wenn der Autor unsere Ausartung schon damals so deutlich bemerkte, wie weit müssen wir jetzt fortgeschritten sein, und wie nah müssen wir jetzt am Abgrund des Göttlichen stehen? 

Wenn ich mir die schönen, farbigen Fassaden der alten Gebäude ansehe, werde ich etwas runterkommen, und das ist das beste, was ich momentan unternehmen kann. Ich lasse das wie ein schwerer Stein wiegende Buch auf dem Tisch liegen und gehe spazieren, was ich hin und wieder mache. Die Kellnerin (ich nenne sie nicht beim richtigen Namen und lügen möchte ich auch nicht) weiß Bescheid und wird meinen Platz an niemanden vergeben –komme, was wolle. Was mein Buch angeht, mache ich mir darum keine Sorgen, denn niemand würde so ein massives Buch mitnehmen, es sei denn, dass derjenige sich in der Weser ertränken möchte, aber davon gehe ich heute nicht aus. Es ist viel zu schön heute, um sterben zu wollen, obwohl man nie weiß, wann und wo die Glocke lauten wird. 

Ich stehe vor der Rattenfänger-Halle und schmunzelnd denke ich an den bekanntesten Pädophilen der Welt –das ist meine persönliche Stellungnahme dem Rattenfänger der Brüdern Grimm gegenüber –, während die japanischen Touristen sich diese Sage aus dem Mund des Führers begeistert anhören und alles ohne Ausnahme fotografieren, selbst mich. Ich stelle mir vor, was sie sich denken werden, wenn sie mein grinsendes Gesicht später entdecken. Ich hoffe, sie werden die Fotos behalten, aber es ist mir nicht so wichtig, um sie darum selber zu bitten.     

„Der grinsende Mann“ geht weiter seines Weges, durch die schmalen Nebenstraßen und Gassen. Die Atmosphäre dieser Stadt beruhigt ihn. Er ist weder hier geboren worden noch hat er hier seine große Liebe getroffen, nichtsdestotrotz zieht ihn dieser Ort wie ein starker, unsichtbarer Magnet an, und diese Anziehungskraft wirkt betäubend, fast einschläfernd auf ihn. Als ob er die ganze Zeit einen köstlichen Wein durch die Luft in sich einnehmen würde.

Ich betrete einen Laden für gesunde Ernährung, wo es sehr stark nach getrockneten Lebensmitteln riecht, und ich brauche wie immer etwas Zeit, um mich daran zu gewöhnen. Als ich das erste Mal hier gewesen bin, wurde mir so schwindlig, dass ich sofort rausgelaufen bin, weil ich glaubte, ich musste mich übergeben. 

Ich kaufe mir eine Packung Gemüsechips. Die Verkäuferin ist neu, aber ich bin ihr schon in der Stadt begegnet. Ich erinnere mich gut an sie, weil sie für ihr Alter –von dem ich ausgehe –noch sehr schön und frisch ist. Mit so einer Frau hätte ich bestimmt viel Gemeinsames. Ich könnte mit ihr über gute Bücher und Filmklassiker reden, mit ihr in die Oper gehen, ohne dass sie mich dafür hasst oder sich zu Tode langweilt, mit ihr langsam und zart Liebe machen, ohne mir schmutzige Worte und Sätze einer unerfahrenen, noch nicht als eine vollständige Persönlichkeit entwickelten, jungen Frau anzuhören, die eigentlich dafür gedacht sind, mich zu erregen, aber in Wirklichkeit nur die Tötung der Leidenschaft und der männlichen Kraft heraufbeschwören. 

Vor einem vollen Regal stehend, täusche ich vor, mich mit dem Auswählen zu beschäftigen, während ich all die möglichen Szenarien unseres gemeinsamen Lebens in meinem Kopf abspiele. Egal wie es sich entwickelt, das Ende ist immer das selbe, und diese Kenntnis der Sache macht mich wütend, sodass ich die arme Chipspackung in meiner Hand bis zum Platzen zerdrücke.

Die Verkäuferin, mit der ich in meinen Gedanken schon zusammen gewesen bin und mich von ihr bereits auf eine der vielen tragischen Weisen getrennt habe, erschreckt sich. Ich entschuldige mich augenblicklich und frage sie nach einem Handfeger und einer Kehrschaufel, die sie mir mit einem höflichen Lächeln, aber mit einem kleinen Vorsichtsabstand überreicht, nachdem ich darauf bestanden habe, selber aufzuräumen. Sie versichert mir, dass es nicht schlimm sei und sowas uns allen ab und zu passieren könne. Ich fege, nehme eine andere Packung, bezahle und verlasse schnellstmöglich den Laden, wo meine unverwirklichte Liebe für immer zurück bleibt. Ich bin mir nicht sicher, dass ich es noch jemals wage, den Laden zu besuchen, und ich kann nicht sagen, was mir peinlicher ist –meine vorherigen Einfälle oder das, was ich gemacht habe. Ich atme die, nach den verschiedenen Blumen duftende Luft tief ein, versuche meinen verkrampften Körper und Geist zu entspannen und gehe ruhigen Schrittes die Straße in Richtung Bürgergarten entlang.

Unterwegs sehe ich einen Bettler mit einem krummen Fuß gehen. Jeder Schritt muss ihm wehtun. So ein einfacher Vorgang wie spazieren, der anderen viel Freude bereitet, schmerzt und peinigt ihn. Tag für Tag ist er der Plage des Lebens ausgesetzt, wobei alles so schön und einfach sein könnte... Ist es aber nicht. Bei wem sich beschweren? Von wem die Hilfe erwarten, wenn selbst etwas Mitgefühl schon zu viel verlangt ist?  Dabei beobachte ich die Passanten, die nichts von ihm wissen wollen. Ich gehöre auch zu denen, aber trotz allem dürfen wir nicht vergessen, dass die Bettler auch Menschen sind. Egal, ob sie für Mafia arbeiten oder sehr oft lästig werden, sie sind auch Menschen. Einige der jungen Frauen rümpfen verächtlich die Nase und wenden sich von ihm ab, als ob er ein zerfetzter Müllsack wäre, die anderen ignorieren ihn, aber er ist doch einer von uns. Er träumt, hofft, weint, lacht vielleicht manchmal –und langsam, aber unausweichlich stirbt er.

Diesmal verspüre ich ein unaufhaltsames Bedürfnis, ihm etwas Geld zu geben, aber dafür muss ich ihn einholen. Erstaunlich, wie schnell er auf den Krücken geht –Übung macht den Meister. Endlich habe ich ihn, aber bin etwas aus der Puste. Er sieht mich misstrauisch an. Er weiß nicht, was er von mir erwarten soll. Habe ich vielleicht vor, ihn zu beschimpfen oder ihm trotz seiner körperlichen Behinderung vorzuschlagen arbeiten zu gehen. Als er mich nach meiner Hosentasche greifen sieht, beruhigt sich seine gequälte Seele und etwas wie ein Lächeln tritt auf seine schmale Lippen.

Der Bürgergarten ist voll von Menschen. Ich sitze zwischen zwei älteren Damen und nasche meine gesunden Chips. Die freudige Umgebung betrachtend, werde ich dermaßen traurig, dass mir die Tränen kommen, die ich unauffällig wegzuwischen versuche. All diese Lebenden werden bald nicht mehr existieren und an ihre Stelle kommen die Nächsten, die ihrerseits auch nicht lange hier bleiben dürfen. Manchmal fällt es mir sehr schwer, an den gütigen Gott zu glauben. Dann sehe ich eine einsame Frau in einer Burka, die neben dem Kinderspielplatz mit den Sportgeräten tüchtig trainiert, und ich muss schmunzeln. Die Frauen, zwischen denen ich sitze, halten mich bestimmt für einen inadäquaten Mann, aber was soll’s! Ich leide an enormen Stimmungsschwankungen, es könnte schlimmer sein.   

Als ich jünger war, hatte ich meine große Liebe in Berlin, aber ich wusste nicht, was ich damit anfangen sollte. Jetzt, wo ich so viel weiß, kann ich mit meinem Wissen nichts anfangen. Schon komisch, das Leben ist wie ein guter Witz, der schlecht erzählt wird. Es macht keinen Sinn, nach dem Schuldigen zu suchen, denn jeder sieht ihn im Spiegel, und es macht auch keinen Sinn, sich über sich selbst zu ärgern, sich zu beschimpfen, zu schlagen und sich die Haare wie eine Figur aus tausendundeiner Nacht zu raufen.

Es bringt einfach nichts, aber es nimmt etwas, etwas Wichtiges, was wir brauchen, und zwar unser Vertrauen in uns selbst. Wir müssen zugeben, dass wir manchmal Fehler begehen, aber wir sind sterblich, und das ist ein wesentlicher Grund, um uns selber zu verzeihen.

Öfters erinnere ich mich an ihre sanften und zugleich leidenschaftlichen Berührungen, wie sie mich anschaute, ich könnte schwören, genau zu wissen, was und wie sie dachte, wie sie fühlte, wie sie hoffte... Ihre Liebkosungen waren wie ein Traum, aus dem ich unerwartet aufgewacht bin und zu dem ich wieder zurückkehren möchte, aber es ist unmöglich, denn all die Pforten, durch die wir gehen, öffnen sich nur in eine Richtung, immer weiter und weiter nach außen.

Vor einigen Jahren war ich geschäftlich in Berlin unterwegs, aber diesmal war die Stadt ganz anders für mich. Obwohl es wieder im Sommer war, traf sie mich mit ihrer kältesten Seite. Die Farben waren blass für meine Augen, die Geräusche der überfüllten Straßen klangen feindselig, das Essen schmeckte mir nach gar nichts und das Einzige, was ich ab und zu roch, war Benzin. 

Ich saß vor einem Imbiss, an der Ecke einer Kreuzung, wo wir ziemlich oft mit ihren zwei kleinen Hunden vorbei zum Lietzensee Gassi gingen. Die Verkäuferin im Imbiss kannte ich gut. Ab und zu tranken wir dort Kaffee und aßen sehr leckere Zimtkekse nach einem russischen Rezept, die es nur bei ihr zu kaufen gab, aber jetzt nicht mehr.

Die Kenntnis, dass diese Stadt, in der ich jemanden liebte und von jemandem geliebt wurde, nur noch in meinen schwachen, unzuverlässigen Erinnerungen vorhanden war, schmerzte meine Seele zutiefst, denn sie war unerreichbar wie eine andere Galaxie. Meine Machtlosigkeit, wenigstens eine Minute aus der Vergangenheit zu wiederholen, eine Begegnung, ein kurzer Wortwechsel, vielleicht eine flüchtige Berührung oder ein Augenkontakt, der so viel sagen kann –genau diese Machtlosigkeit zerdrückte mich auf dem Stuhl, auf dem ich saß, wie einen Marienkäfer unter einer Armee Stiefel. Ich fühlte mich von der ganzen Welt zurückgelassen, niemand wusste mehr, wer ich bin, selbst meine bekannte Verkäuferin war nicht mehr dieselbe. Sie hatte mich zwar erkannt, aber von der früheren Nettigkeit keine Spur mehr. Mag sein, dass etwas Schlimmes in ihrem Leben geschehen war, was sie so veränderte, aber das war auch keine Erleichterung für mich. Alles hatte sich geändert, diese Stadt war für mich tot, und ich war das für sie.

Sie wollte mich nicht mehr, sie versuchte mich wie einen Parasiten abzustoßen. Ich war absolut überflüssig und unerwünscht. Ein uneingeladener Gast, der nur alle stört und verschwinden muss, damit die Feier endlich losgeht.

Plötzlich fing es an in Strömen zu regnen, und ich konnte nichts mehr, außer die fallenden, auf dem Asphalt platzenden Regentropfen zu hören. Ich musste sogar meinen Kiefer hin und her bewegen, um den Druck in meinen Ohren abzusenken. Dann starb ich tausend Tode. Sie war da, mit ihren roten Ballerinas in der Hand überquerte sie barfuß den Fußgängerüberweg und war klatschnass. So ging sie einige Meter an mir vorbei, ohne in meine Richtung zu schauen, und ich erinnerte mich an einen herrlichen Sommertag, an dem ein starker Niederschlag uns beide beim Spazieren erwischte und wir ganz nass wurden. Anfangs wollte ich mit ihr wegrennen und mich irgendwo verstecken, aber sie hielt mich an und sagte, dass wir auch den Regen genießen sollten. Sie schloss ihre Augen und wandte ihr Gesicht zum Himmel, der sie zart streichelte. Diese Szene hatte mich sehr beeindruckt. Zum ersten Mal in meinem Leben wollte ich nirgendwo anders und mit niemand anderem sein als da mit ihr.

Jetzt musste ich mich entscheiden, was ich tun würde, und ich entschloss mich, ihr zu folgen. Dabei dachte ich an ihre wunderschönen Füße. Sie hatten ihren eigenen Charakter. Ich könnte sie stundenlang betrachten und streicheln. So schlank, so graziös und kitzlig. Und ihr leichter anmutsvoller Gang war wie ein Sonnentanz an einem unvergesslichen Tag im August, den jeder erleben sollte.

Ich wusste, dass sie nach Hause ging, ich wollte nur sehen, wie sie reingeht, und mich dann unauffällig für immer entfernen. Während ich ihr folgte, durchlebte ich alle unsere Momente mit ihren Höhen und Höhen, denn es gab keine Tiefen, noch nicht...

Es mag unlogisch klingen, aber ich habe sie verlassen, weil ich sie über alles liebte, und ich wollte nicht, dass dieses Gefühl mit der Zeit stirbt. Ich glaubte, dass ich unsere Liebe durch eine unerwartete Trennung verewigen könnte. Es wäre wie ein plötzlicher Tod eines guten Freundes, an den wir uns  bis zum letzten Tag unseres Lebens mit der Wärme im Herzen erinnern. Ich wollte auf keinen Fall den Kelch der Liebenden bis zur Neige auskosten, weil danach nichts anderes als Gleichgültigkeit, Verachtung oder sogar Hass bliebe.

Ich tat ihr weh, ich weiß es, und das Beste, was ich noch für sie machen konnte, war keinen Kontakt mit ihr aufzunehmen, es nicht mal zu versuchen. Als sie sich ihrem Haus näherte, beschleunigte sie ihren Gang, und ich sah einen kleinen Jungen in einem gelben Regenmantel mit offenen Armen ihr entgegenlaufen, und hinter ihm sah ich einen Mann, der fröhlich lächelte.

Ich wartete, bis sie alle reingingen und die Tür zumachten, ich verabschiedete mich, was ich damals nicht tat, dann ging ich. Meine Kleidung war nass und klebte an meinem ganzen Körper, meine Aktentasche hatte es besser als ich, aber mir war das völlig egal. Ich hatte andere Sorgen. Ich hatte keine Liebe, aber Liebe hatte mich.

Es gab einen pessimistisch-romantischen russischen Dichter –Michail Lermontow –, der mit siebenundzwanzig Jahren bei einem Duell, wie sein Idol Puschkin, starb. Seine letzten Gedichte schrien nach Verzweiflung und Todessucht. So jung, sah er keinen Sinn mehr zu leben und zu lieben. Seiner Meinung nach ist allen Liebesbeziehungen ein unglückliches Ende vorbestimmt, und es ist nicht der Mühe wert zu versuchen, mit jemandem glücklich zu sein, denn keine Liebe dauert ewig. Ich versuche mir vorzustellen, wie trist und öde seine Existenz (denn Leben ohne Liebe ist kein Leben) gewesen sein muss. Nicht mal einen klitze-kleinen Hoffnungsschimmer trug der Arme in sich. Er gab sein Leben auf, weil er dachte, dass er keine Chance hatte, und genau deswegen hatte er auch keine.Er kämpfte gegen den eingeborenen Impuls zu lieben. Ob er ihn in sich ganz auslöschte, ist nicht bekannt, aber eins kann man mit Gewissheit behaupten –er war ein todunglücklicher und gespaltener Mensch, dessen Hilferufe weder von Menschen noch von Göttern erhört wurden.

Ich wusste nicht mehr, wohin in dieser riesigen Stadt, und ich fuhr mit einem Taxi zum Hauptbahnhof. Es gab niemanden hier, den ich sehen oder von dem ich gesehen werden wollte. Ich war fertig mit Berlin und Berlin war fertig mit mir. Ein Kapitel meines Lebens schloss sich endgültig mit einiger Zeitverzögerung zu. Kann sein, dass es schon längst geschehen war, aber ich brauchte diesen Tag, diese Minuten und Gefühle, die ich bei diesem Besuch erlebt habe, um es endlich zu begreifen und mich damit abzufinden. Ich log mich jahrelang an, ich bildete mir ein, dass ich etwas daran ändern oder wiedergutmachen könnte. Das unbeholfene Ich, verloren wie ein Geist eines Verstorbenen, der es nicht glauben kann, dass das Leben vorbei ist, der nicht imstande ist, es loszulassen, denn es erfordert viel Mut und Kraft.

„Glaub endlich daran, es wird euch nicht mehr geben, ihr wart zusammen, dort, damals, so oft und so lange, es ist wirklich gewesen, keiner kann es dir wegnehmen, du trägst es in dir genauso wie deine Kindheit, deine Ängste, Worte deiner Eltern, deinen Schmerz und deine Sünden. Alles, was dir geschehen und wiederfahren ist, ist immer noch da. Du kannst versuchen, es durch den Alltag zu vergessen, aber du schaffst es nicht, es kommt wieder, du kannst es durch Illusionen verbrenenn, aber die Asche wirst du nicht los, du kannst dir eine andere Vergangenheit einreden, aber das Wissen der Wahrheit wird dich wie ein Schatten verfolgen, du kannst wagen, ihn dir abzuschneiden, dabei wirst du nur dich selber in Scheiben schneiden, wie es Henry Miller so schön sagte. Du hast verloren, nimm es hin, sei wenigstens ein guter Verlierer, es steckt eine gewisse Würde im Scheitern, wenn du daraus etwas lernst. Lern es, präg es dir in deinen Dickschädel ein; du dachtest, du kannst die Zeit täuschen, du hast wie ein kleiner Junge geglaubt, dass du etwas verewigen kannst, dafür hast du deine Liebe dem Gott deiner Überheblichkeit geopfert, du hast sie auf dem Altar deiner Arroganz verbluten lassen, indem du sie verlassen hast, während sie an dir fast wie am Leben hing. Sie hätte sterben können, vielleicht war sie gestorben, diejenige, die du gekannt und dermaßen geliebt hast, wie du es manchmal zu behaupten wagst, dass du sie verietest. Glaubtest du tatsächlich, dass dein kindischer Plan aufgehen wird? Oder war es nur ein Vorwand, um deine Feigheit gegenüber dem größten Gefühl überhaupt zu kaschieren? Jetzt sitzt du auf einer Bank und wartest auf den Zug, der dich weit weg bringt, glaubst du zumindest, aber wohin willst du eigentlich, was hast du vor, was kannst du schon vorhaben, nachdem du so viel hinter dir hast? Hast du daran gedacht, dass du älter wirst oder denkst du, dass du den Feind aller Freuden überlisten kannst?“

Auf einmal ertappte ich mich, mit mir selber laut zu streiten. Einige Menschen in meiner Nähe sahen mich schief an und nahmen größeren Abstand zu mir. Ich ging kurz auf die Toilette, um mir das Gesicht zu waschen.  Der Mann im Spiegel tat mir leid, er war so einsam, erschrocken und verwirrt. Er brauchte jemanden, um ihm den richtigen Weg zu zeigen, aber das war unmöglich, jeder muss seinen Weg selber finden. 

Ich konnte mir Zärtlichkeit der Frauen kaufen, vielleicht würde das eine Weile helfen, aber es wäre kein Sieg gegen das Schicksal, sondern eine entsetzliche Niederlage. Ich würde damit meine Einwilligung geben, dass es so weiter gehen kann, ohne dass es die Eine gibt, die mich liebt und mir ihr kostbares Ich schenkt.

Im Zug schlief ich ein und blieb fort, bis ich an meinem Ziel war, dann ging ich nach Hause, nahm ein Bad und legte mich vollig erschöpft aufs Sofa. Ich fühlte mich wie ein Sandsack, geschlagen.

In der Nacht träumte ich, dass ich mich in meinem Zimmer befand, aber es war so gut wie leer. Nur ein Stuhl in der Mitte des Raums, auf dem ich saß, und ich versuchte, mich zu erinnern, was ich tun wollte oder sollte. Etwas sehr Wichtiges musste von mir erledigt werden, aber ich wusste nicht mehr was. Ohne jeglichen Hinweis quälte ich meinen Verstand, aber der Erfolg blieb mir fern.

Das Zimmer hatte ein Fenster, das offen war. Eine warme Brise, die nach dem Meer roch, ließ den weißen Vorhang langsam  hin und her schwenken. Ich vernahm menschliche Stimmen, die heiter sprachen und lachten, Vogelgezwitscher und leise klassische Musik. Ein starker Drang, mich an der Freude des Lebens zu beteiligen, entfachte sich in mir. Ich stand augenblicklich auf und verließ meine einsame Höhle. Ich begab mich in ein kaltes und kaum beleuchtetes Treppenhaus, das ich unbedingt runterlaufen musste. Die Stufen waren aus Stein, der eine unerträgliche Kälte ausstrahlte. Ich schaute zur Decke, wo ein Fenster war. Darin sah ich den blauen Himmel, und er gab mir die Kraft, zu meinem Ziel weiter zu gehen. Mir war schwindlig und ich musste mich an der Wand abstützen. So mit den Händen an den Wänden streifend, kam ich endlich zur Tür, hinter der mich ein warmer, vielversprechender Tag erwartete. Aber als ich die Tür aufmachte, war da nichts außer einer dunklen Winternacht. Ich wollte sofort zurück ins Haus, aber es war auch verschwunden; und so stand ich ganz alleine, nicht mal wissend, wo ich überhaupt war und wohin ich eigentlich musste. Seitdem hatte ich diesen Traum ziemlich oft.

Die Chips haben meinen Appetit angeregt. Ich muss langsam zurück zum Cafe.

Ich sitze an meinem Tisch und schaue das immer noch vor mir liegende Buch an, dann kommt meine Kellnerin zu mir, um mich zu fragen, wie mein heutiger Spaziergang war und ob mir etwas Seltsames oder Lustiges aufgefallen sei. Ich erzähle ihr von der sportlichen Frau in der Burka und von den japanischen Touristen, die mich vielleicht für einen bekannten deutschen Politiker gehalten haben. Sie lacht, ohne jemanden dabei zu verletzen –wie ich das an ihr liebe! –, dann teile ich ihr mit, dass ich gerne einen Caesar-Salat mit einem Glas Orangensaft hätte.

Sie fliegt davon, und ich genieße ihren wie immer anmutigen Abgang, als ob er der Nachtisch wäre, den ich ausnahmsweise als Vorspeise bekommen habe. Für diesen Anblick bin ich dankbar. Was meine Einsamkeit angeht, nehme ich sie an, ich habe sie mir schließlich verdient. Ich werde nicht versuchen, sie loszuwerden, sie ist ein Teil von mir, der irgendwann mit mir zusammen gehen wird.   

Die Luft ist elektrisiert, es wird bald bestimmt einen Wolkenbruch geben, aber er kann mir nichts anhaben, weil ich unter einem großen Schirm sitze.   

 

2017

 

Giorgi Ghambashidze