14. Februar 2018

Multitude Versprechen

Ant Colony-Titel
First Year Healthy
Ant Colony
Ant Colony
Ant Colony, rechtes Bild Ameisenkönigin
Ant Colony
Queen
Aestetics
Canadian Royalty
Canadian Royalty

 

 

Vergessen Sie nicht beim Lesen von Ant Colony: Jede Jungkönigin kann von mehreren, zwei bis 40, Männchen begattet werden. Sie nimmt bis zu mehrere 100 Millionen Spermien in ihrem Samensack auf, die sie durchschnittlich 25 Jahre unbeschadet verwahren kann und mit denen sie die Eier befruchtet.

Einige Stunden nach dem Hochzeitsflug sterben die Männchen, sie werden von den Arbeiterinnen dann als Nahrung betrachtet und in den Bau gebracht. Wenn die Königin zurück auf die Erde fällt, brechen ihre Flügel in der Regel an vorbestimmten Stellen oder sie beißt sie sich selbst ab, da sie nicht mehr benötigt werden.


Ich liebe diesen tuntigen, gespreizten, verfeinerten, sexbeladenen Kitsch von Michael DeForge. Und ich liebe seine privaten sozialen Studien. Sein Kitsch hat das Original schon lange aus dem Blick verloren und feiert nun nur noch sich selbst, im Abklatsch, im Surrogat und als billigen Ersatz. Gefeiert wird im Abseits einer kanadischen Provinz am Zeichentisch. Dort morpht der Zeremonienmeister DeForge seine „Canadien Royals“ aus dem Sammelheft „A Body Beneth“ zu futuristischen Körpern, spielt mit ihren Geschlechtsidentitäten oder macht sie zu Zombies. Doch das ist nicht der ganze DeForge. Realistischer geht es da schon bei seinen im Schnee auf freiem Feld liegenden wichsenden Jungen zu, die ihre tapferen Soldaten reiben, bis sie Frostbeulen an den Schenkeln bekommen. So in „First year healthy“ von 2015. Was aber nicht als Hardcore-Szene, sondern im niedlichen Peanuts-Figuren-Stil daherkommt und sich erst bei näherem Hinsehen als explizit sexuell entpuppt. Eingebettet sind solch kurzzeitig wärmende Interaktionen steht’s in eine provinzielle Einsamkeit, weite Räumen und wilde Natur. Das sind Kennzeichen von Michael DeForge, geboren und aufgewachsen in Ottawa, Kanada. Seine Comics spiegeln gerade nicht das Großstadtgefühl, dass jeder, der einem begegnet, eine Möglichkeit – geht es einem gut –, und jeder einer zu viel ist, wenn es einem schlecht geht, wider. Die sozialen Bindungen sind hier oft bedrückend eng. Michael DeForge, 1987 geboren, kommt aus der unteren Mittelklasse oder der oberen Unterschicht. Seine Ängste sind geprägt von sozialer Dystopie und Zerfall, seine ungesicherten Identitäten sind bi-tri-pan gespalten mit einem Hang zum Morbiden. Am Zeichentisch gibt er diesen Ambivalenzen eine feste Form. Das Versprechen der Kunst, seinen als formlos erlebten Unsicherheiten und Identitäten eine Form geben zu können, die dann, als Symptome stilbewusst, zu lieben man lernen kann, um sie gegebenenfalls auch wieder zu verlassen. Zunächst sehen seine Comics aus wie die vieler Autoren-Künstler, die der Welt begeistert die Ergebnisse ihrer Selbstbespiegelungspraktiken vorführen. Bei Michael DeForge in einer Mixtur aus Peanuts, Chester Brown, Mark Beyer und Hideshi Hino. Ich folgte seinen Arbeiten, 2014 bis 2017, nach dem Zufallsprinzip. Zuletzt las ich „Ant Colony“, sein 2014 erschienener erste Handcover-Band, der die Geschichte einer Ameisenkolonie, von der nur ein schwules Pärchen, einer mit Kriegstrauma, ein Baby aus der feindlichen roten Ameisenkolonie, ein gelber Prophet und ein Polizist überlebt haben, die sich nun überlegen, eine neue Kolonie nach ihren Vorstellungen zu gründen. Eine utopische Situation, die so denkerisch wie sarkastisch, spannend, humorvoll und doof-sinnig surreal ist, dass man aus dem Staunen nicht herauskommt. Wohingegen „Sticks Angelica, Folk Hero“ von 2017, in der sich ein End-Vierzigerin in die Wildnis zurückzieht, um dort mit Tieren in Gemeinschaft zu leben, eine eher trockene Geschichte ist. Trocken, wörtlich genommen, denn bei Michael DeForge geht es oft saftig, blutig-organisch zu. Er ist ein Meister feuchter Metamorphosen von Menschen in Pflanzen, Tiere in Kadaver oder Menschen in Fabelwesen. In „Big Kids“, 2016, wird eine ganze Familie langsam zu Pflanzen, in „Mars is my last Hope“, erschienen 2015 im Sammelband „Dressing“, sind es drei Personen, die ungleichzeitig in Marsbewohner übergehen und dabei ihre alte Sprache verlieren, was dann auch den Leser ausschließt, dem dann nur noch der Genuss an abstrakten Zeichengewittern bleibt. Neben Einzelwerken und der abgeschlossenen Heftserie „LOSE“ arbeitet Michael DeForge als Grafiker und Illustrator. DeForge steht für eine moderne, westlich geprägte Kleinstadt-Einsamkeit, stilbewusste Selbstbespiegelung sowie multitude Versprechen, „alles aus sich machen zu können“, die aber, darwinistisch betrachtet, gar keine sind; zumal seine genetischen Neuorientierungen oft am Rande einer Apokalypse, beim Rückzug in die Natur oder auf dem Weg zu Selbstfindung stattfinden. So mischt sich in die Utopie immer auch der Beigeschmack von Hoffnungslosigkeit, dass die menschliche Gemeinschaft nicht ohne radikale Verwandlung überlebt. Ob nun als Marsbewohner, als Pflanzen oder in einer (schwulen) Ameisenkolonie unter Polizeiaufsicht, bleibt offen.


Im Mai erscheint der neue Sammelband „Western World“. Bisher nur auf Englisch erschienen bei Drawm & Quarterly und Koyama Press. Eine deutsche Übersetzung wäre jetzt nötig.


Christoph Bannat

 

 

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