28. Januar 2004

Der gefährliche Blick zurück

 

Sonntagszeitungsbeilagen könnten in diesem Buch, das auf einem Gespräch zwischen Alain Finkielkraut und Antoine Robitaille, einem Quebecer Freund, beruht, fündig werden, wenn das Thema nicht schon so durch wäre. Zum soundsovielten Mal wird dem kapitalistischen Westen Seinsvergessenheit vorgeworfen: Arroganz der großen Staaten gegenüber den kleinen (wie Polen), Frechheit der Jugend gegenüber dem reifen Alter, scheinbare Intensität des Medienzeitalters gegenüber erprobter Kontinuität der Gutenberggalaxis. Das Rezept fällt je nachdem aus. Heil im Glauben, Rettung durch Kunst, Kampf durch Engagement. Der Gegner ist in jedem Fall klar vor Augen, das Symptom eindeutig beschreibbar, und dann muss man eigentlich nur noch das machen, was der Autor vorschlägt, und alles wird gut.

Wenn man dann mal das macht, was der Autor empfiehlt, nämlich Lesen, können einem leicht die Augen übergehen, es gibt so viel Autoren, die es gut mit einem meinen. Aber natürlich meint Finkielkraut keine Ratgeberliteratur, sondern den Kanon. Und die Bücher, die den Kanon bilden, werden nicht gelesen, sondern angebetet. Eigentlich ist gar nichts dagegen zu sagen, dass es „gute“ Literatur gibt, die einen berauscht, fortträgt, anregt usw. Aber das ist Finkielkraut zu wenig. Es geht um Haltung gegenüber der Tradition, es geht um Konservatismus, von dem der Franzose selber sagt, dass seine Zeit wohl vorbei sei. Wenn Frankreichs Schüler Racines „Phädra“ (die französische „Faust“ gewissermaßen) nicht mehr verstehen, ist eigentlich alles zu spät.

Aber viel später ist es in den USA, die noch nicht mal mehr das autoritäre französische Schulsystem besitzen. Während in Frankreich Schüler noch sitzen bleiben, hält man in Amerika Autoren fest. In einer Pflegeanstalt, die unter der Schirmherrschaft des Multikulturalismus steht, werden ältere, meist europäische Schriftsteller (die alten male chauvinist pigs) auf den neuesten Stand gebracht und politisch korrigiert. Identitätslogisch werden hier postum Noten verteilt, an die die armen literaturbesessenen Heten von damals nun wirklich nicht denken konnten. Eine solche Prozedur ist nicht schön, sie ist sogar abstoßend und bestätigt Vorurteile gegenüber dem tumben Staatenverbund. Aber steht hier nicht ein Ethnozentrismus einem anderen sprachlos gegenüber? Finkielkraut als Verfechter der High-Culture, der vergisst, dass es ein bisschen Zeit braucht und noch etwas mehr, um in Ovationen vor etwas auszubrechen, das für die meisten eine bleierne Bildungsmauer bleiben wird. Gesamtgesellschaftlich ist es nicht sinnvoll, Rimbaud oder Christian Kracht sozialisieren zu wollen. Dann sollen ihre Bücher lieber gleich unangetastet oder dem zu erwartenden Leserkreis vorbehalten bleiben, bevor sie basisdemokratisch zurechtgestutzt werden. Man wird sowieso von anderen Autoren sprechen, auch wenn man die gleichen Namen nennt.

Die Zeit könnte für Leute wie Finkielkraut nicht besser sein. Wenn sie ihr Klageritual beendet haben werden, können sie dazu übergehen, entspannt auf Entdeckungsreise zu gehen und uns Bücher präsentieren und preisen, die in Vergessenheit geraten sind, was ja doch der Normalfall ist, ohne diese Präsentation gleich mit einem Lamento zu unterlegen, das die meisten eh nur verschreckt, wenn es denn überhaupt ankommt. Die Zeit ist immer aus den Fugen. Wunderbarerweise hält sie aber trotzdem immer, solange sie hält.

 

Dieter Wenk

 

Alain Finkielkraut, Die Undankbarkeit, Berlin 2001 (L’Ingratitude, Paris 1999)