18. September 2017

Oh wie wenig das ähnelt

 

In seiner kurzen und sehr produktiven Karriere als Autor hat Georges Perec noch immer viel hinterlassen, das auf eine Übertragung ins Deutsche wartet. Diaphanes ist seit einigen Jahren dabei, eine konzentrierte Edition aus Perecs ebenso breitem wie enigmatischem Werk zusammenzustellen. Neben den eigentlichen Taschenbuchausgaben ist im Juni nun ein Hardcover erschienen von Perecs Traumtagebuch Die dunkle Kammer. Ursprünglich bereits 1973 im Original herausgebracht, musste es bis heute warten und die "helle Kammer" Barthes hinter sich bringen, um nun mit dem Untertitel "124 Träume" auf Deutsch, übertragen von Jürgen Ritte, zu erscheinen. Traumbücher sind grundsätzlich schwierig, weil alles möglich ist an nachträglicher Veränderung und es an sich egal ist, woher die Inspiration kommen mag, um abseitige, überraschende Bücher zu schreiben. Ja, kann man nicht darauf verzichten zu sagen, es wären Träume und man selbst der Federführer? In Perecs Fall ist es irgendwie unverständlich. Das, was er von 1968 bis 1972 unter anderem träumte, ist skurril, witzig, groß und intelligent zugleich. Was er daraus schriftstellerisch macht, ist, wie gewohnt bei ihm, allererste Klasse, zumindest was Satzbau, Präzision und Blick ausmacht, doch ist dieser Wust an Themen und Komplexen eigentlich auch genau das, auf das man kommen würde, das Perec träumen würde auf dem Weg zu seinen grandios auskomponierten Büchern, die jede Prosagrenze sprengen, indem sie sich Regeln auferlegen, die der Poesie – welcher Schule auch immer – wesentlich näher sind als gemeinhin Prosatexte. Und man kann mit Fug und Recht sagen, Die dunkle Kammer ist einfach ein netter Beitrag für Komplettisten, mitnichten aber ein essenzieller Stein in einem Oeuvre, das wie kein zweites von der schöpferischen Ausformulierung und Disziplin lebt, die ein sogenanntes Traumtagebuch eben kontradiktorisch nie haben kann. Insofern sind wir bei Perec, während er träumt, und finden jeden einzelnen Traum so schön und interessant, dass es schade ist, dass nicht jeder der Beginn eines weiteren großen Perec Werks ist. Nach drei, vier Träumen wird klar, dass noch 120 dieser Art folgen und es für immer bei diesen Zusammenfassungen nicht geschriebener Bücher bleiben wird. Schade. Die Edition ist vorzüglich, zurückhaltender Einband, griffiges Format, gute Übersetzung, doch die Idee hinter dem Buch, dass gerade Perec Texte in völliger Losgelöstheit aufschreibt, macht bei ihm keinen Sinn. Vielleicht muss man sich den Zwang der Gattung Traum einfach wegdenken und heraus kommt ein Miniaturenband Prosa, der Seinesgleichen sucht. Überbordend, kritisch und nach einer Regel komponiert, die so undurchschaubar ist wie nichts sonst. Einzig Perecs selbstajoutiertes Glossar, das gewohnt den Gesetzen seiner Listenmanie folgt, regelt ein wenig die Zugehörigkeit der Themen und allein jene eigene Auswertung seiner selbst hat den kompositorischen Atem der späteren Bücher. Hier wechseln sich skurrile Satzentitäten wie "fröhlich lächelnd" mit Termini wie "Kugel, Bombe, Geschoss" ab, mit jeweiligen Verweisen. Das Nachwort liest sich gut, bringt allerdings auch kein Licht ins Dunkel, warum sich der Oulipist hier selbst wiederspricht. Laut Ritte würden sich Perecianer vor diesem Buch fürchten, es meiden. Ein ambivalentes Buch, in der Tat.

 

Jonis Hartmann

 

Georges Perec: Die dunkle Kammer. Diaphanes 2017. ISBN 978-3037348956

 

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