11. September 2017

»Rettungsschirm«

 

Robert Menasses Roman »Die Hauptstadt« ist ein, bedenkt man die Produktionszeiten von Büchern, erstaunlich tagesaktueller europapolitischer Episodenroman, der in Brüssel spielt. Naheliegenderweise lernt der Leser also Beamte der europäischen Kommission kennen, vor allem Leute, die für das unbedeutendste Ressort überhaupt arbeiten: Kultur & Bildung. Sie nennen sich selber die Leute von der Arche – denn eine Arche fährt nicht, sie treibt ziellos herum und hat nur ein kümmerliches Anliegen, »sich selbst und das, was sie an Bord führt, retten«. Außerdem kommen im rasant die Schauplätze wechselnden Text aber noch Geheimdienstler, Schweinezüchter und ein belgischer Polizist der Mordkommission vor sowie ein alter Mann, der als Kind aus dem Deportationszug nach Auschwitz fliehen konnte und später verraten doch im Vernichtungslager interniert wurde, aber überlebte.

 

Das Lager Auschwitz ist der Verbindungsort aller Episoden. Die Grundidee der riesig aufgequollenen europäischen Bürokratie war einmal sehr schlank, simpel, aber schwierig zu machen: Nie wieder Faschismus, nie wieder Nationalismus. Ohne Auschwitz kein Europa. Der Bruder des Schweinezüchters reist zu den jährlichen Gedenkfeiern nach Auschwitz und kauft sich zuvor ausgerechnet deutsche Qualitätsunterwäsche, um während der Ansprachen nicht zu frieren, er schwitzt entsetzlich. Der Schweinezüchter versucht seinem Bruder von der Kulturabteilung erfolglos die Wichtigkeit eines gesamteuropäischen Handelsabkommens für den Export von Schweinen nach China zu erklären. Der Bruder versteht das schon, aber da er in der Bürokratiemühle arbeitet, weiß er, dass der österreichische Schweinebauer keine Chance hat und sich alle europäischen Nationen lieber gegenseitig im Preiskrieg zermürben werden, genau das sagt ihm ja auch der Lobbyisten-Bruder. Nie wieder Nationalismus ist nicht so einfach (und nicht nur Schweinerassen, sondern vor allem Sport heizt diese Scheiße immer wieder aufs Neue an).

 

»Welche Bedeutung haben Verflechtungen und Vernetzungen, wenn die Betroffenen nichts davon wissen?«, fragt der Erzähler, als er gerade mal wieder zwei seiner Protagonisten in ein und dasselbe Flugzeug gesetzt hat (natürlich ohne, dass sich ihre Geschichten vermischen würden). Und man kann darauf verschiedene Antworten geben. Man könnte erklären, dass aus genau diesem Grund die EU-Politik mit Hochdruck und vielleicht vor allem die marginale Kultur- und Bildungsabteilung weiterarbeiten muss, denn einzelne Betroffene wissen womöglich nichts oder vergessen das von mal zu mal, aber es gibt eben diese eine Institution, die die Verflechtungen und Vernetzungen der europäischen Staaten zum Ausgang hatte und zur Aufgabe hat, eben das nicht zu vergessen!

 

Man könnte mit obiger Frage natürlich auch nur auf den Leser zielen, der nun eben gefälligst die Vernetzungen ertragen muss, als Komplize des allwissenden Erzählers. Das wäre der Trigger eines Kriminalromans und streckenweise ist »Die Hauptstadt« auch wirklich ein Krimi. Ganz zum Schluss kann man feststellen, dass man den Mann, der vom Geheimdienst hätte getötet werden soll (womöglich um den Bombenanschlag in der Metro zu vereiteln?), vermutlich auf den ersten Seiten kurz getroffen hat.

Man kann aber auch fatalistisch schließen, so stellt der betende Berufskiller fest: »Man hat sich nichts zu wünschen von einem absoluten Geist, der schweigt.«

Alle drei Varianten, diese Frage zu beantworten, und noch weitere Varianten mehr wechseln sich dauernd ab im Text. Weil sich das Genre also dauernd verschiebt, fährt sich die Geschichte niemals melodramatisch fest, wird etwa zäh, pappig, schwerfällig moralisch oder sonst was Schlimmes. Robert Menasse ist ein Autor, der sich aus dem klebrig schweren, problematisch überfrachteten Themenkomplex deutsche und europäische Geschichte kraft alberner Volten und Einfälle münchhausenartig am eigenen Zopf herausziehen kann, ohne dabei das Thema zu veralbern.

 

Die Feststellung, dass ein deutscher Neologismus wie »Rettungsschirm« nur dreimal in der FAZ gestanden haben muss und schon kommt das Wort jedem Gebildeten völlig normal vor, was aber eben den Übersetzern überall auf der Welt großes Kopfzerbrechen bereitet, ist fatal und komisch. Die entgeisterte Beobachtung, dass man Bücher nicht mehr verbrennt, sondern »zeitgemäß gekürzt« in stillgelegten Kaminen bürgerlicher Wohnung präsentiert, albern. Der Befund, solange man sich abends noch die Zähne putzt, nicht von einer Depression zu sprechen ist, sondern höchstens von einer Verstimmung, wiederum komisch, genauso wie die sehr treffend als »raunende Transformation von keinen Ideen in ein babylonisches Kauderwelsch« charakterisierte Bürokratie. Alle diese Bemerkungen sind, ein wenig tragisch kratzbürstig zwar, aber deshalb wirklich erleichternd.

 

So lautet das Motto von Kapitel 11: »Wenn etwas zerfällt, muss es Zusammenhänge gegeben haben«, das ist albern, weil tautologisch, etwa wie der Satz Wenn man nicht zu Krämpfen neigt, ist man entspannt, aber eben brauchbar, denn es gibt die Zusammenhänge und sie sind verkrampft.

 

Nora Sdun

 

Robert Menasse: Die Hauptstadt, Suhrkamp 2017 

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