11. Juli 2017

Kühn an den Rändern des Daseins

 

Jürgen Becker ist 85 Jahre - Aussichten auf sein Werk

 

In einem Nachwort erinnert Michael Krüger bezogen auf Jürgen Beckers Lyrik an Hugo von Hofmannsthals Vortrag "Poesie und Leben" aus dem Jahr 1896 und dabei an dessen Satz: "Eine neue und kühne Verbindung von Worten ist das wundervollste Geschenk für die Seele." Schön ist in Jürgen Beckers Literatur nicht alles. Er kennt Glück und Unglück. 

"... Das Zeitungsblatt unter der abgerissenen Tapete; ein Foto zwischen Stapeln von Fotos ..." ("Graugänse über Toronto") 

Am 10.07.1932 ist Jürgen Beckers Geburtstag. Die Erinnerungen des Büchner-Preis-Trägers also gehen bis zurück in die Zeit des 2. Weltkriegs. Damals lebte auch Lee Miller: Ab 30.04.1945 gab es in Berlin Hitler nicht mehr. Dies soll keine sichere Tatsache sein. Und an diesem Tag soll die amerikanische Fotografin Lee Miller in seiner Münchner Wohnung ein Bad genommen haben. Eventuell aber soll Hitler nach Argentinien oder in die Antarktis entkommen sein. Ein Foto belegt, dass Lee Miller in seiner Badewanne saß. Davon weiß ich seit meiner Buchbesprechung von Jürgen Beckers "Scheunen im Gelände".  Ich schrieb 2011: "Ein Korrespondenzbuch kühn auch an Rändern des Daseins: Text - Bild und Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft". Ich jedenfalls hatte als jemand aus den Nachkriegsgenerationen glücklich Musik und Kunst im Leben.

"Was man liegen läßt, im Vorbeigehen, später / stellt sich heraus / es war ein Versäumnis, vielleicht. / Sicher kann man sich nie sein, / auch wenn Zivilisten aussehen wie Zivilisten ..." // („Umleitung Soltau-Ost)"

In der Reihe Lyrik Kabinett München erschien der Gedichtband "Scheunen im Gelände" von Jürgen Becker. Ein weißes Buch, das in Karton aus zwei Farbfeldern, blau und rot, gebunden ist. Darauf silbrig-weiße Typografie.

"Scheunen im Gelände" dokumentiert autobiografisch Gefärbtes des 80-jährigen Becker, der über 40-jährige Erfahrung im Umgang mit Lyrik hat. Und die künstlerische Avantgarde der 50er Jahre mit Stockhausen, Kagel, Vostell und anderen kannte und in den 60ern zur Gruppe 47 eingeladen wurde. Becker war auch zeitweilig Lektor, Verlags- und Hörspielleiter. Hinsichtlich der Bedeutung der Vergangenheit hält Becker das Schreiben für einen „archäologischen“ Vorgang. Es gehe darum, verschüttete Erinnerungen hervorzuholen. Eigene und beim Leser. Eine der Stärken dieses Lyrikers beschreibt Krüger aber so: Seine Gedichte "bleiben über die Zeit hinweg offen“. Genau in der Fähigkeit im Bewusstseinsvorgang Schreiben eine Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herzustellen und zu präsentieren, liegt eine Qualität.

Die Gedichte in dem Buch sind inspiriert und ergänzt durch Collagen von Rango Bohne, Beckers Ehefrau. Man kann es ein Korrespondenz-Buch nennen. Becker schätzt die Impulse, die aus Bohnes visueller Arbeit kommen. In ihren Bildern entstehe ein unmittelbarer, authentischer Ausdruck, der nichts mit der vorgefunden Bilderwelt zu tun habe, „vergleichbar mit meinem Arbeiten“, so teilt Becker dem Neuen Evangelischen Kirchenverband Köln kürzlich im Gespräch mit anlässlich einer Lesung und Ausstellung in der Trinitatiskirche.

"weiße Flächen berühren den Waldrand / dahinter beginnt wavon man nichts weiß / unbestimmt bleibt auch die Himmelsrichtung / die Herkunft dessen was ankommen wird / spät vielleicht plötzlich / es kann still bleiben wie nie zuvor // (was und wann)"

Dass es den Wert der Natur gibt. Einer unzerstörten Natur. Klar zu spüren in den Gedichten von "Scheunen im Gelände". Aber auch, dass dies wenig selbstverständlich sein kann und ist, dass man möglichst präzise darauf aufmerksam machen muss. Auch dass diese Naturerfahrung eine Grenzerfahrung ist oder werden kann in Gefährdetem. In gefährdetem Terrain und Leben, das angreifbar ist und angegriffen ist. So wirken auch die Collagen von Rango Bohne, die mit den Gedichten korrespondieren. Bilder, die Naturstücke sind. Realismus, in dem man dann aber verschobene Teilstücke wahrnimmt. Nicht zusammenstimmende Kanten, plötzliche, leichte oder starke Farbbrüche. Gerade noch im Stimmigen. Aber eben keine Spur romantisch. Sondern poetisch gebrochen. Ohne Brüche ist auch bei Becker nichts. Manche Figuren in den Gedichten leben damit, manchen gelingt dies nicht. Menschen, in deren Natur etwas eingedrungen ist, das bis an die Grenzen des Ertragbaren strapaziert. Auch bis zu einem worst case, wie etwa Krieg und danach ganz am Leben scheitern. Oder in der Kunst mit allem umgehen.

"Nach ihrer Zeit mit den Surrealisten / ging Lee Miller als Kriegsphotografin / für Vogue an die Front. Sie ließ sich / in München photografieren, als sie / in Hitlers Badewanne ein Bad nahm, / kurz nach ihrem Besuch in Dachau. // (History)"

Ironisch Gebrochenes meint Becker nicht. Kein "naturgemäß" in einem Thomas Bernhardschen Sinn. Sondern Klarheit, Ruhe, Reinheit, in der der Mensch noch natürlich oder ungeblendet eine Chance haben sollte. Sollte. Denn Beckers Gedichte in "Scheunen im Gelände" handeln davon, dass eben genau dies nicht selbstverständlich ist oder unmöglich.

 "Der Waldrand steht still. / Still liegen die Felder. / So sieht es aus. / So kann man es sagen. // (Eine Zeit ohne Skrupel)"

"Der rasanten Veränderung der Welt hält Becker trotzig sein stilles Bild der Welt entgegen", ergänzt Michael Krüger.

"Winterküsten" in Jürgen Beckers Literatur

Erst Jahre nach "Scheunen im Gelände" komme ich wieder auf Lektüre Beckers zurück.  Zeile für  Zeile der ersten Seiten von "Wie es weiterging" liest sich erst mal irritierend kalt. "... nun mischt sich Schnee und Ruß und Platz, wir sehen die Winterküsten; die Öffnung in den großen Nordwesten, graue Buchten, und keine Ruhe. Sprechen. So fort. Gänge quer längs lang während. Daueraufenthaltsdauer. Die Pfiffe der nahen Züge aus dem Hintergrund die Pfiffe der plötzlichen Ereignisse im Vordergrund die plötzlichen Aussichten sind immer schon da ..." Dann lese ich hinein in "Jetzt die Gegend damals". Das sind sofort eher seltsam stimmige Zeilen:  "... Filme, die man zum fünften Mal, sechsten Mal sieht, und jedesmal eine Szene, die man wie zum ersten Mal sieht ..." Vielleicht habe ich Fassbinder nicht oft genug gesehen. Aber dann weiter bei Becker:  "... Dreißig Jahre nach Kriegsende fragt Jörn für eine Radiosendung einige gleichaltrige Zeitgenossen nach ihren Erfahrungen und Erinnerungen. Alle sprachen von Kapitulation, Niederlage. Zusammenbruch ..." Ständig wird man an den Krieg erinnert. Becker ist diesen Sommer 85 Jahre alt und hat seine Kindheit im Krieg verbracht. Ich habe in meiner Jugend, Jahrzehnte nach dieser Zeit, immer gedacht, die Menschen wird dieser Krieg nie mehr belasten. Ich habe gedacht, wir werden immer Glück haben ohne Faschismus. Und ich hatte von Jugend an Freude an internationaler Musik und Kunst. Nichts hat mich mehr interessiert als Musik und Kunst.  "... Und wer nicht dabei war, weiß gar nicht, worüber wir reden. Wir reden darüber, daß wir nicht mehr dabei sind ... verstehst du, was der Nachfolger deines Nachfolgers alles so anstellt? Nicht länger dein Kurs, und wieso auch, falls du noch weißt, wie du zurande gekommen bist, dümpelnd im Schatten, schlingernd aus dem Schatten hinaus ..." Sätze aus dem Journalgedicht "Graugänse über Toronto". Wie schon gesagt: Ich hatte als jemand aus den Nachkriegsgenerationen glücklich Musik und Kunst in meinem Leben.

Jürgen Becker

"Wie es weiterging" (Suhrkamp, 2012)

"Jetzt die Gegend damals" (Suhrkamp, 2015)

"Graugänse über Toronto" (Suhrkamp, 2017)

(Jürgen Becker: "Scheunen im Gelände" - Mit Collagen von Rango Bohne und einem Nachwort von Michael Krüger, Lyrik Kabinett, München, 2012)

www.juergen-becker.com

© Tina Karolina Stauner, 2017