27. Januar 2004

Nur nicht „nicht-ganz”

 

Das alttestamentarische Bild des Leviathan macht uns zwar keine Angst mehr, aber wird es spontan aufgerufen, verbinden wir es vermutlich sofort und ausschließlich mit Grausamkeit und Machtgier, wobei wir diese beiden Zuschreibungen unter der Hand sowohl auf das mythologische Tier als auf den von diesem Tier symbolisierten Staat projizieren. Leicht wird dabei vergessen, dass die erste Aufgabe des Leviathan der Schutz des Einzelnen vor anderen Einzelnen ist. Ein fiktiver Vertrag lässt alle sich in die Obhut, aber auch in die Höhle des großen Anderen, der als Staat alle Macht in sich versammelt, begeben.

Da Thomas Hobbes aber auch ein netter Mensch ist, trifft er eine Unterscheidung, die uns heute so selbstverständlich erscheint, dass wir ihre damalige Tragweite gar nicht begreifen. Es ist die Unterscheidung von innen und außen, genauer von staatlichem Bekenntnis und privater Meinung (ein anderer hat es dann so formuliert: „Denkt, was ihr wollt, nur gehorcht“). Carl Schmitt, ein Freund von Thomas Hobbes, sieht in dieser Nettigkeit – in seinen Augen natürlich eine Nachlässigkeit – die Achillesferse des Leviathan, die auf Dauer die Doppelfunktion von Macht und Schutz des hier zum ersten Mal vorgestellten funktionalistischen Legalitätssystems (so jedenfalls euphorisch und wohl etwas zu schnell Schmitt) nicht halten kann. Recht ist Gesetz ist Macht ist Befehl – dem hat der Untertan Rechnung zu tragen, und räsonnieren sollte er dabei gar nicht. Achillesferse hin, Achillesferse her, interessant ist, was Schmitt mit dieser bei Hobbes zu konstatierenden „Schwäche“ jetzt macht.

Sobald Unterscheidungen getroffen werden wie hier zwischen innen und außen, weisen sie eine Asymmetrie auf, die eines der beiden Glieder privilegiert. In diesem Fall ist es das Außen (Macht), das das Innen (private Meinung) dominiert, die Innerlichkeit wird toleriert, aber sie tut nichts (zur Sache). Spätestens bei dem folgenden Gedanken Schmitts wird klar, dass seine Schrift nicht ganz zufällig 1938 gedruckt wurde. Denn anstatt die dekonstruktive Schraube in Gang zu setzen, indem er zeigen würde, wie der unterlegene Teil der Unterscheidung mit der Zeit die Oberhand gewinnt, macht es sich Schmitt teleologisch bequem auf dem zu seiner Zeit geschätzten Dogma der jüdischen Weltverschwörung und führt als ersten Kandidaten Baruch Spinoza an, dem die „kaum sichtbare Bruchstelle“ bei Hobbes auffiel und „in ihr sofort die große Einbruchstelle des modernen Liberalismus“ erkannte.

Im 18. Jahrhundert ist es Moses Mendelssohn, dem die weitere Schwächung des Leviathan angelastet wird zu Gunsten der Gewissensfreiheit: „… ohne großen Geist, als Intellekt mit Spinoza nicht zu vergleichen, aber mit dem unbeirrbaren Instinkt dafür, dass eine solche Unterminierung und Aushöhlung der staatlichen Macht zur Lähmung des fremden und zur Emanzipation des eigenen jüdischen Volkes am besten dient.“ Für das 19. Jahrhundert kann Schmitt dann schon eine „jüdische Front“ ausmachen, die, angeführt vom Frontmann Stahl-Jolson, für den Zusammenbruch des „preußischen Soldatenstaats“ verantwortlich gemacht wird.

Mit dem Innen kann Schmitt nur Maskenexistenz, Doppelwesen, Unseriösität verbinden, all das, was er unter dem Titel Pluralismus abserviert. „Indirekte Mächte“ (zum Beispiel Gewerkschaften) sind Schuld an der Zerstörung der „großen Maschine“ Leviathan. „Denn die wunderbare Armatur einer modernen staatlichen Organisation erfordert einen einheitlichen Willen und einen einheitlichen Geist.“ Es fällt nicht schwer, die entsprechenden Termini einzusetzen, denn natürlich ist Schmitts „Leviathan“ nichts anderes als eine Variante damaliger „Führerphilosophie“.

Man muss die „Bruchstelle“ ja nicht gleich so lesen, dass Hobbes sie absichtlich eingebaut hat, um auf Umwegen wieder bei der Vereinzelung, diesmal aber ohne Angst, anzukommen, eine Art anarchistischer oder postmoderner Individualismus. Aber was Schmitt mit der Hobbes’schen „Ursünde“ macht, das ist wirklich sehr traurig.

 

Dieter Wenk

 

Carl Schmitt, Leviathan (1938)