8. Juli 2017

Rechts, Links & Co. (4)

 

Louis-Auguste Blanqui und die Vier Jahreszeiten

 

Ausgehend von der eigenartigen Position des "Linkskatholiken" Walter Dirks (vgl. das dritte Kapitel zu den Untersuchungen von "links" und "rechts") ließe sich folgerichtig fragen, ob die "wahre Mitte", die Dirks anstrebt, auch von der umgekehrten Besetzung des Schemas zu erreichen sei, also nicht nach dem Motto "rechts sein und links handeln", sondern indem man links sei und rechts handele. Geht die Umkehr über bloßes Wortgeklingel hinaus? Oder will, wer links ist und womöglich rechts handelt, gar keine "wahre Mitte" anstreben, sondern ganz klar die Umkehrung aller Verhältnisse? Die Probe aufs Exempel soll mit der Revolutionstheorie des Franzosen Louis-Auguste Blanqui (1805-1881) gemacht werden. Die Annalen des linken Spektrums führen ihn weniger als Theoretiker denn als Aktivist und Stratege. Marx und Engels haben ihn wegen seiner in ihren Augen fehlenden oder unzulänglichen Klassenanalysen nicht richtig ernst genommen. Er war ihnen nicht "wissenschaftlich" genug. An Berufspraxis ("Berufsrevolutionär") dagegen konnte ihm keiner das Wasser reichen, an den Revolutionen von 1830, 1848 und 1871 war er maßgeblich beteiligt, 37 Jahre seines Lebens saß er im Gefängnis.

Blanqui ist der Verfechter eines egalitären Kommunismus, ein "ursprünglich egalitäre[r] Urzustand" solle wiederhergestellt werden. Die Kluft zwischen arm und reich gelte es zu beseitigen. An das triadische Geschichtsmodell knüpfen sich weitere Überlegungen an. Blanqui ist von Anfang an Berufsrevolutionär; das heißt nichts anderes, als anzunehmen, dass diejenigen, die es wirklich betrifft, nämlich die ausgebeuteten Arbeiter, gar keine Zeit haben, neben der schweren körperlichen Arbeit sich auch noch Gedanken zu machen zur Revolution und deren Voraussetzungen. Die "Instruktionen zum Aufstand" liefert eben der Berufsrevolutionär. Bloße Streiks, so Blanqui, würden den Kapitalisten nicht entschieden das Wasser abgraben, es gehe darum, handstreichartig die Entscheider an den wichtigen Positionen in Politik, Wirtschaft, Verwaltung und Militär zu entmachten und eine Clique von im vorhinein darauf Trainierten an deren Stelle einzusetzen. Keine Frage, Blanqui "ist" links. Interessant ist, sich anzuschauen, wie Blanqui sich die Zeit vor dem Aufstand vorstellt. Um eine Sache muss er sich nicht kümmern, nämlich die Ausbeutung der Arbeiter durch die "Reichen", die wird freiwillig nicht eingestellt werden. Auch von Seiten der Berufsrevolutionäre geht alles seinen Gang, allerdings werden die Arbeiter zu keiner Zeit darüber informiert oder gar für die Zeit "danach" trainiert. Das Proletariat stellt nichts anderes als eine Masse dar, derer man, also die Revolutionäre, sich im entscheidenden Moment bedienen muss. Aber wer, wenn nicht das Proletariat, handelt im entscheidenden Punkt?

Es sind die legendären Geheimgesellschaften der Zeit, die Sekten und die Clubs. Den 'Vater der Geheimgesellschaften', Filippo Buanarotti, lernt Blanqui persönlich kennen, 1824, mit 19 Jahren, schließt sich Blanqui den 'Carbonari' an, die von Buanarotti, selbst Schüler Babeufs, ins Leben gerufen worden waren. Repräsentativ für die Geheimgesellschaften werden die Carbonari von Arno Münster/1/ als "streng hierarchisch gegliederte[] Geheimgesellschaft liberal-demokratischer Tendenz" charakterisiert, in nuce findet man also schon hier die Verteilung: links sein und rechts handeln. Die "große Phasenverschiebung", von der Walter Dirks sprach als dem Ereignis, das für die Begriffsverwirrung in Sachen links und rechts verantwortlich zu machen war, ist natürlich bereits im 19. Jahrhundert und auch bei Blanqui festgestellt worden, wenn auch nicht unter diesem Namen: die "Mittelklasse" (die Bürger), die einst die müßigen Aristokraten vertrieben hatte, betriebe nun ihrerseits den "Despotismus". Gegen diese Mittelklasse müsse nun der vierte Stand, das Proletariat, angehen, und da es das nicht allein vermöge, müssten ihm diejenigen helfen, die die gleichen Interessen hätten, ohne des gleichen Standes zu sein. Der Berufsrevolutionär ist ein Chef. Die auf unterschiedlichen Ebenen der Hierarchie der die Revolution vorbereitenden Chefs sind mit der "Wahrnehmung der Führungsaufgaben" betraut, die dem Arbeiter selbst nicht zuzumuten ist. Eine Geheimgesellschaft, deren Effektivität darauf beruht, dass nichts nach "draußen" dringt, trägt eine despotische Struktur insofern, als immer nur nach unten vermittelt wird. Jeder Subchef weiß nur so viel, wie er zu wissen hat im Gesamtplan des Haupt-Berufsrevolutionärs. Eine Geheimgesellschaft hat also eine pyramidale Form. Und ihre Aktionsform ist das Diktat. Von solchen Gesellschaften soll es in der Zeit zwischen 1824 und 1848 "einige hundert" gegeben haben. Und obwohl das Wichtigste dieser Gesellschaften eben in der Geheimhaltung und der Intransparenz zu verorten ist, weiß man, wie diese Clubs aufgebaut waren. Bei Münster liest man etwa:

"Die 'Société des Saisons", eine der bekanntesten Geheimgesellschaften, in denen Blanqui wirkte, bestand aus Grundeinheiten von je sechs Mitgliedern und einem 'Chef'. Je vier dieser 'Semaines' (Wochen) bildeten einen 'Monat': 28 Mitglieder und ein 'Chef'; drei 'Monate' ergaben eine 'Jahreszeit' von 84 Mann; vier 'Jahreszeiten' bildeten das 'Jahr' mit 353 Mitgliedern, das von einem revolutionären Führer kommandiert wurde (...) Das Verhältnis von 'Wochen', 'Monaten' und 'Jahreszeiten' innerhalb dieser Pyramide war so geregelt, daß jeweils nur die Chefs der nächsthöheren Organisationseinheiten miteinander kommunizierten." In dieser Pyramide kommt der eigentliche Held der Arbeit, der Proletarier, gar nicht vor. Er wird, stärker als die große Zahl der Subchefs, vom Ausbruch des Aufstands überrascht. Blanquis Revolutionstheorie ist eine Elitetheorie, eine Agenda für eine extreme Minderheit. Letztlich zielt diese Revolutionsauffassung auf eine Überrumpelung des Gegners und der massenhaften Letztgereihten der Gesellschaft, von denen man nun eine rege Beteiligung erwartet, ohne die, was historisch eben dann doch tatsächlich meist geschah, der Aufstand im Sande verlaufen würde. Zuletzt war der Arbeiter die schwache Stelle der Umsturztheorie, denn er war kein Clubmitglied. Das Mitglied einer Geheimgesellschaft hatte dieser absoluten Gehorsam zu schwören von dem Moment an, von dem es Mitglied war. Es herrschte, um es mit Ignatius von Loyola zu sagen, "Kadavergehorsam". Diskussionen fanden nicht statt, schon gar nicht darüber, wann der Moment erreicht sei, von dessen Überschreitung der Arbeiter sein Heil zu ewarten habe. Aber auch für die Zeit nach dem Aufstand konnte man nicht auf transparentere Verhältnisse hoffen, denn einen weiteren wichtigen Baustein einer gelingenden Revolution sah Blanqui in einer "Erziehungsdiktatur" als dem Ex-post-Pendant der Minoritätenrevolution. Ihre Dauer? Bis zur Herstellung der "Gleichheit".

Von einer Asymmetrie des Schemas, nach der am Ende des letzten Kapitels (Walter Dirks: rechts und links) eher rhetorisch gefragt wurde, kann also keine Rede sein. Ob aber in der blanquistischen Gleichheit die "wahre Mitte" liege, nach der Dirks verlangte, soll hier eher angezweifelt werden. Blanqui ist sich der partiellen Rechtslastigkeit seiner Theorie vielleicht gar nicht bewusst gewesen. Die Kritik daran ist gleichwohl – auch nach Blanquis Tod – nicht ausgeblieben, und zwar Kritik von "links". Rosa Luxemburg etwa sprach von einem "'Dreschflegel'-Sozialismus", dem immanent sei, in die "terroristische Strategie" abzugleiten. Der junge Trotzki warf Lenins streng disziplinierter Kaderpartei vor, die "Revolutionsauffassung des blanquistisch-neojakobinischen Typs" restaurieren zu wollen. Lenin warf er vor: "Zuerst tritt die Parteiorganisation an die Stelle der ganzen Partei, dann nimmt das Zentralkomitee die Stelle der Organisation ein, und schließlich ersetzt ein einziger Diktator das Zentralkomitee." Und so kam es ja dann leider auch. Blanqui ist aber – direkt oder indirekt – nicht nur von links, sondern auch von rechts (innerhalb des linken Spektrums) kritisiert worden. So zieh die Sozialdemokratie der II. Internationale (1889 in Paris gegründet) des Blanquismus diejenigen Kräfte, die den "'friedlichen parlamentarischen Kampf der Partei – unterstützt durch den gewerkschaftlichen Kampf um die Erhöhung des materiellen Lebensniveaus der Arbeiterschaft – als Politik der Integration und Schwächung der Arbeiterbewegung kritisierten.'" 1871 hatte es Louis-Auguste Blanqui wider Willen zum "Staatsgefangenen Nr. 1" gebracht. Er wäre es wohl auch geblieben, selbst wenn dieser Staat sich klar gemacht hätte, von Blanqui in mancher Hinsicht rechts überholt worden zu sein.

Dieter Wenk (7-17)

 

 

 

Literatur: vgl. hierzu die lesenswerte Einleitung des Herausgebers Arno Münster zu: Louis-Auguste Blanqui, Schriften zur Revolution, Nationalökonomie und Sozialkritik, Reinbek 1971 (Rowohlt Taschenbuch Verlag), S. 7-39.