7. Juni 2017

Plädoyer für Realismustendenzen in der Malerei

Maria Lassnig: Stundenglas (2001)

 

Figurativer Trend in der Gegenwart. Kritisches Statement und Hommage

 

„Die Figur ist der Malerei natürlich nie abhandengekommen …“

 

Maria Lassnig lebte vom 08.09.1919 bis 06.05.2014, Lucian Freud lebte vom 08.12.1922 bis 20.07.2011, Norbert Tadeusz lebte vom 19.02.1940 bis 11.07.2011. Seit 17.05.2017 lebt der am 30.09.1937 geborene Johannes Michael Wilhelm Grützke nicht mehr: ein Anlass, wenn auch ein unerfreulicher, für ein Plädoyer für den Stellenwert von Realismustendenzen in der gegenwärtigen Malerei. 

 

„Zurück zur Figur“

„Die beiden großen Linien der Moderne, Abstraktion und Figuration, verliefen immer parallel, letztere jedoch wurde bereits unzählige Male für tot erklärt. Der Titel der Ausstellung ,Zurück zur Figur‘ meint keineswegs eine Zurückwendung oder gar einen Rückschritt zu überkommenen Modellen. Vielmehr will er Anregung sein, darüber nachzudenken, ob es analog zum ,Retour à l’ordre‘ in den 1920er Jahren auch heute gesellschaftliche Verunsicherungen gibt, die Auslöser für den figurativen Trend unserer Gegenwart sind.“ (Ausstellungsinfo in „Zurück zur Figur – Malerei der Gegenwart“, 2006, Hypo-Kunsthalle München)

Erinnerung an einen Ausstellungsbesuch

Im Zentrum der Ausstellung „Zurück zur Figur – Malerei der Gegenwart“, die immer noch relevant ist, wenn auch vor einigen Jahren präsentiert, ein großer, hellgrauer Raum. Er wirkt wie ein Kraftfeld mit Bildern von Maria Lassnig, Eric Fischl, Johannes Grützke, Lucian Freud, Norbert Tadeusz, Jenny Saville, neben denen noch einige weniger Nennenswerte platziert sind.

 

Kraftfeld Realismus

Ein Raum mit dargestellten nackten oder kaum bekleideten Körpern, auch Porträts, viel Haut, Fleisch. Der Mensch und seine jeweils ganz persönliche Situation und Befindlichkeit. Mehr nicht. An der Wandtafel der Text: „… Das derzeit so große Interesse der Künstler am Porträt genauso wie am Körperlichen und auch Seelischen lässt sich sicherlich darauf zurückführen, dass die Welt in einer labilen Übergangsphase steckt, dem noch nicht abgeschlossenen Wechsel von der Industrie- zur Informationsgesellschaft. Die hier gezeigten Bilder von nackten Körpern gezeichnet von Krankheit, Alter, Schmerz oder Angst stehen dabei in krassem Gegensatz zur alltäglichen Bilderflut der perfekt gestylten Menschen, die Medien und Werbung im Zeitalter von Anti-Aging und kosmetischer Chirurgie verbreiten.“

An einer Wand fällt als Erstes das übergroße Gemälde von Jenny Saville auf, das einen Menschen zeigt, der Frau zu sein scheint mit männlichem Genital. Selbstbewusster Gesichtsausdruck. Und man sieht im Bildvordergrund direkt zwischen die Beine. Die Farbkomposition in hellweißbeigen Farbtönen bis ins Grelltürkisfarbene. Viel Oberflächlichkeit sowohl in der groben Spachteltechnik des Farbauftrags als auch in der Darstellung. Ein Mensch, der sich einfach gerne nackt zu zeigen scheint. Doch so kräftig und wuchtig präsent, dass es mehr als nur Pose ist. Daneben ein sehr kleines Porträt von Lucian Freud in beigerosagelben Tönen in einem bronzefarbenen Reliefrahmen. Unspektakulär und klassisch gemalt hat es jedoch keine geringere Wirkung als das riesige Saville-Gemälde.

Auf der gegenüberliegenden Seite eine Arbeit von Maria Lassnig. Vor weißem Bildhintergrund Gesicht und Oberkörper einer Frau, die Oberkopfpartie fehlt. Die Frau hält ein Glas in der Hand. Den Mund hat sie leicht geöffnet, sodass die dunkle Mundhöhle zu sehen ist. Stechendtürkisfarbene Augen, in denen grausames, schreckliches Wissen zu sein scheint, blicken leicht nach oben. Etwas macht das Bild zum Ausdrucksstärksten der ganzen Ausstellung. Auf dem Glas zeichnet sich die Form X ab.

Weitere Szenen, mit denen man von Fischl, Tadeusz und Grützke konfrontiert wird, sind in klar definierten Räumen, einem Bad, einem Atelier, einem Zimmer mit Holztisch und -möbeln. Und nur der Mensch in verschiedenen privaten Situationen, beim Duschen, beim Rasieren, auf einem Sessel kniend oder darüber gebeugt oder in extrem manierierter Körperhaltung. Jeder für sich in einer mehr oder weniger alltäglichen Pose, die Assoziationen zulässt oder einfach nur für sich steht. Einige weitere daneben ausgestellte Arbeiten erwähne ich nicht, beschreibe ich nicht, da sie nebensächlich bleiben. Für mich besteht das Kraftfeld aus genau den genannten Gemälden.

Vor dem Bild von Maria Lassnig sagt gerade eine Frau in Flüsterton: „Ihre Zeit ist abgelaufen.“ Körper sind vergänglich. Und durch körperliches Funktionieren und Agieren sind wir mitten im Leben präsent. Allerdings für einen begrenzten Zeitraum, diese Gedanken gehen mir in dem Moment durch den Kopf.

 

Für mich relevante Arbeiten:

Eric Fischl - „Bathroomscene #2“, 2003, Öl auf Leinwand, 182,8 x 274,3 cm. Ob das Paar, das im Badezimmer eines Mies-van-der-Rohe-Hauses abgebildet ist, wirklich nur beziehungslos nebeneinander lebt, wie im Katalog vermerkt, ist fraglich. Vielleicht ist jeder am Morgen einfach nur für sich, so wie er gerade ist.

Lucian Freud - „Head Of A Naked Girl“, 1999–2000, Öl auf Leinwand, 43,8 x 33,5 cm. Das Mädchenporträt, realistisch, ungeschönt, zeigt bloßes Gesicht, kein Hinweis auf Ort oder gesellschaftliche Stellung. Die Aufmerksamkeit scheint gleichsam auf die Psyche des Modells gelenkt, aus der Wirkung und Spannung kommt, obwohl man eigentlich nur blonde, kurze Haare sieht und einen grauen Blick etwas nach unten und mit verschlossenem Gesichtsausdruck.

Johannes Grützke - „Schwert umgürten und los“, 2000, Öl auf Leinwand, 200 x 130 cm. Komödiantisch wirkt Grützke, wie er sich da selbst abbildet, in merkwürdiger Haltung, auf einem Tisch kauernd, das Gesicht verzerrt. Er trägt seine üblichen weißen Hosen, weiße Schuhe, die Haut des entblößten Oberkörpers ist gelb, das Gesicht rot. Vor seiner Person stehen ein paar schwarze Stiefel neben einer Büste, bei der der Oberkörper rot, das Gesicht gelb wirkt. Der Pinselduktus, in dem gearbeitet wurde, ist heftig und expressiv. Die gemalte Handlung scheint absurd. Das Dargestellte erklärt sich nicht, nichts passt so recht zusammen, komisch, verfremdet, dramatisch, verspielt und übertrieben ernst zugleich, wie das Leben so sein kann.

Maria Lassnig - „Die Sanduhr (Stundenglas)“, 2001, Öl auf Leinwand, 205 x 157 cm. Lassnig spricht von absolutem, senkrechtem Farbsehen und vom einzig wirklich Realen, ihren Gefühlen, die sich innerhalb des Körpergehäuses abspielen, physiologischer Natur, wenn es um ihre Malerei geht: „Ich trete gleichsam nackt vor die Leinwand, ohne Absicht …“ Die hier präsentierte Arbeit dürfte ein Selbstporträt sein. Stark wirken die Farbtöne rosa, gelb und grün in ihrem Zusammenspiel.

Jenny Saville - „Passage“, 2004, Öl auf Leinwand, 336 x 290 cm. Nur ein entblößter Leib ohne persönliche und soziale Attribute, weder Identität noch Individualität, sondern ein Körper, der für die Hermaphroditität steht. Ist der Blick des Modells, wie im Buch mitgeteilt, verloren und leer? Ich sehe auch so etwas wie Trotz, Eigensinnigkeit über den Mut zu keiner eindeutigen Geschlechtszugehörigkeit. Auch ob es um Zerrissenheit geht, wie behauptet wird, stelle ich infrage.

Norbert Tadeusz - „Atelier II“, 2002, Acryl auf Leinwand, 190 x 190 cm, „Schwarzer Sessel, Schatten (Testa)“, 2002, Acryl auf Leinwand, 150 x 100 cm. Von oben quer auf das Modell und den Atelierboden blickt man in einen Raum, der in seltsam grün-blaues Licht mit starken Schattenstreifen getaucht ist. Wie auf einer Bühne posiert eine nackte Frau, man kann weitere Handlung ahnen, obwohl nicht explizit auf Geschehen hingewiesen wird, in einem Zwischenreich aus Alltäglichkeit und Theater.

Realismus an der Grenze zum Theatralischen

Das ist der Realismus in den von mir ausgewählten Malereien, an der Grenze zum Theatralischen. Weitere Ausstellungsbereiche, bezeichnet „sachlich - magisch - surreal“, „Porträt“, „Pop - Crossover - Subkultur“, „Alltag - Gesellschaft - Politik“ und „Welten - Gegenwelten“ blieben für mich marginal. Mich zog es in den hier näher definierten Ausstellungsbezirk „Körper und Psyche“.

 

Hypo-Kunsthalle München „Zurück zur Figur“: http://www.kunsthalle-muc.de/ausstellungen/details/zurueck-zur-figur/

 

Gemälde einiger der genannten Maler und Malerinnen:

www.ericfischl.com

www.ibiblio.org/wm/paint/auth/freud

www.artnet.com/artist/10133/maria-lassnig.html

www.saatchi-gallery.co.uk/artists/jenny_saville.htm

www.tadeusz.de

 

©Tina Karolina Stauner, 2006/2017