4. Mai 2017

Ökonomie des Geschmacks

 

Schlechte Kunst (9)

 

Das 19. Jahrhundert kannte noch nicht den Taschenspielertrick des folgenden Jahrhunderts, mittels eines einfachen Ironiesignals schlechte Kunst in "gute" Kunst umzuwandeln. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde Ironie durch weitere Hilfsmittel ersetzt, die zum gleichen Ergebnis führten. Fast will es scheinen, dass im 19. Jahrhundert zum letzten Mal der Gegensatz von schlechter und guter Kunst durchführbar war, denn nach 1900 begann man nicht mehr, jedenfalls nicht mehr allein, von guter, sondern von notwendiger Kunst zu sprechen. Die gute alte klassische Ästhetik war am Boden, es wucherten personalisierte Ästhetiken.

Eine Art missing link oder Übergangsszenario stellt Friedrich Nietzsches Aphorismus 'Schlechte Schriftsteller notwendig' aus seinem 1878 veröffentlichten ersten Band von Menschliches, Allzumenschliches dar. Auf der einen Seite ist sein Vokabular noch ganz an Klassik angebunden, ohne dass dieses Wort fällt; auf der anderen Seite, und das ist das Bemerkenswerte an der Betrachtung, scheinen ökonomische Verhältnisse dafür verantwortlich zu sein, ob etwas in aestheticis gut oder schlecht ist. An der nicht nur drohenden, sondern längst herrschenden Vermassung der Kunst arbeiten sich die letzten Helden der Kunst ab. Anders als in seinen Frühschriften reagiert Nietzsche darauf nicht mehr alarmistisch, sondern diagnostisch. Und so heißt der erste Satz von obigem Aphorismus, der die Nummer 201 trägt: "Es wird immer schlechte Schriftsteller geben müssen, denn sie entsprechen dem Geschmack der unentwickelten, unreifen Altersklassen; diese haben so gut ihr Bedürfnis wie die reifen." In diesem Satz liegt das ganze Argument des Programms Nietzsches, das auf Klassik abzielt. Dafür reicht ihm der Gegensatz von unreif gegenüber reif, bzw. jung versus alt. Die Bedürfnislage ist bei beiden Klassen, die sich nicht sozial, sondern generational gegenüberstehen, eine jeweils andere. Die einzige Voraussetzung, mit der Nietzsche arbeitet, lautet, dass Geschmack kein geburtliches Mitbringsel ist, sondern erst im Laufe des Lebens, aber dann, so scheint es, auch notwendigerweise, erworben wird. Die Jugend kann nichts dafür, dass sie keinen guten Geschmack hat. Nietzsche fährt fort: "Wäre das menschliche Leben länger, so würde die Zahl der reif gewordenen Individuen überwiegend oder mindestens gleich groß mit der der unreifen sein; so aber sterben bei weitem die meisten zu jung, das heißt es gibt immer viel mehr unentwickelte Intellekte mit schlechtem Geschmack." Erst an dieser Stelle fällt auf, wie voraussetzungsreich Nietzsches Voraussetzung ist. Es stehen sich nicht nur Junge und Alte gegenüber, wobei auffällt, dass Nietzsche keine genaueren Angaben dazu macht, wann die Jugend vorbei ist. Er bringt auch ein Entwicklungsgesetz ins Spiel, als ob die Reife des Alters von sich aus ästhetische Schübe nach sich zöge. Man vermisst hier den Soziologen Friedrich Nietzsche.

Aber immerhin, wie gesagt, kommt Ökonomie ins Spiel. Denn von Anfang an spricht Nietzsche von Bedürfnissen, und der letzte Satz der kurzen Betrachtung verschärft die antiklassiche Volte der Jugend: "Diese [die unentwickelten Intellekte] begehren überdies mit der größeren Heftigkeit der Jugend nach Befriedigung ihres Bedürfnisses, und sie erzwingen sich schlechte Autoren." Zuletzt also ist das Geschmacksproblem oder einfach die Geschmacksdifferenz eingelagert in das asymmetrische ökonomische Verhältnis von Nachfrage und Angebot. Insofern "gibt" es nicht einfach schlechte Autoren, sondern sie werden erzeugt genau so wie die Produkte, die diese Autoren dann herstellen. Gute Autoren, also solche mit Geschmack, sind nach dieser Argumentation zahlenmäßig notwendigerweise in der Minderzahl. Sie unterstehen aber nicht weniger dem Syndrom des Marktes, nur dass sie wissen, und es sich erlauben können, für die so genannten happy few zu produzieren. An diesem Phänomen wird sich auch in der folgenden Zeit nichts ändern, nur dass man aufhören wird, von gutem Geschmack, also von Klassik, zu sprechen.

Dieter Wenk (5-17)

 

Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, in: F.N., Werke in sechs Bänden, Zweiter Band, S. 435-1009, hrsg. von Karl Schlechta, München – Wien 1980 (Carl Hanser Verlag), nach der 5. Auflage 1966, S. 567 (Aphorismusnummer 201)

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