24. Februar 2017

Die andere Seite

                                          

Als ich aufwachte, war ich schon wach. Ich saß am Schreibtisch und arbeitete.

„Was machst du da?“, fragte ich mich.

„Einer von uns muss ja was tun“, antworte ich mir.

Ich gähnte und rieb mir die Augen.

Wieso saß ich da an meinem Schreibtisch, wenn ich noch im Bett lag. Eine ganz schöne Wampe hatte ich bekommen, stellte ich fest, als ich mich da so seitlich am Schreitisch sitzend betrachtete. Ich hob die Decke hoch und schaute; wenn man liegt, merkt man das gar nicht so, aber im Sitzen war sie schon ganz ordentlich.

„Du bist ziemlich fett geworden“, klärte ich mich auf.

„Ja, weil ich zu viel fresse und mich zu wenig bewege und auch noch unseren Kram hier erledigen muss.“

Er wies auf irgendwelche Zettel und Blätter, deren Inhalt ich logischerweise nicht erkennen konnte.

„Willst du nicht langsam mal aufstehen und mir helfen“, forderte ich mich jetzt auf.

Mir wurde schwindelig. Was war los mit mir? Ich war doch eigentlich nicht Schizo, und dennoch saß ich da an meinem Schreibtisch und forderte mich auf, mir zu helfen.

„Was machst du denn da?“, fragte ich vorsichtig.

„Ich beantworte die Beileidsbekundungen.“

„Beileidsbekundungen?“

„Ja, wenn du es nicht machst, muss ich es halt machen.“

„Wer ist denn gestorben?“ Er drehte sich zu mir um und blickte mich schief lächelnd an. Ich hatte ein ungutes Gefühl. „Nein, ernsthaft.“

„Ich, mein Lieber, also du, ich meine wir … Herr Gott, jetzt hab ich mich verschrieben!“

„Wir?“

„Du, ich, wir, ist doch scheißegal!“

„Aber wenn wir tot sind, wie kannst du dann die Beileidbekundungen beantworten?“

„Gute Frage … aber da ich schon mal wach bin.“

Ich massierte meine Schläfe.

„Wer hat denn alles bekundet?“, fragte ich mich und wusste selbst nicht, warum.

„Alle möglichen Leute, irgendwelche Vettern, die ich kaum kenne, dein Onkel, der noch lebt, ein paar von deinen alten Freunden …“

„Wer?“, fragte ich neugierig.

„Irgendein Stephan, ein Klaus, ein Matthias …“

„Langweilig, das sind ja bloß Studienkollegen, ist Martina dabei?“

„Martina?“

„Ja, du Idiot, Martina; die Frau, mit der wir fast sechs Jahre zusammen waren!“

Er blätterte flüchtig die Karten durch.

„Glaub nicht“, sagte er dann.

„Was heißt, glaub nicht?“

„Ich finde hier jedenfalls nichts.“

„Na ja, warum sollte sie auch, sie war ja auch meine Freundin. Wäre irgendwie unpassend, wenn ich angeblich verdammt noch mal tot bin!“

„Nicht angeblich, mein Lieber, du bist ganz sicher tot … Außerdem ist unsere Mutter dazu nicht in der Lage.“

„Mutter?“

„Ja, die ganze Zeit am Heulen, das heuchlerische Miststück.“

„Weil wir tot sind?“

„Blitzmerker! Ich nehm’s ihr kein Stück ab, der Schlampe, sie hat dich doch erst dazu getrieben …“

„Mutter?“

„Ja, wer sonst.“

„Meinst du?“

„Ach was! Hat sie dir die Kohle gegeben, als du sie wirklich brauchtest? Hat sie dich zweimal einweisen lassen, als du es am wenigsten brauchtest? Hat sie Martina vertrieben, als du sie am meisten brauchtest?“

„Äh …“

„JA, DAS HAT SIE, ist die verdammte Antwort!“

Ich sah, wie ich wütend vom Schreibtisch auffuhr, den Hefter nahm und ihn gegen die Wand warf. Er zersprang in zwei Teile.

„Was soll das?!“, raunte ich mich an. „Ich hab nur den einen.“

„Du hast gar nichts mehr, weil du nämlich tot bist, und Schluss!“

Ich setzte mich wieder an den Schreibtisch und widmete mich den Dankschreiben.

„Werden es die Leute nicht komisch finden, wenn du die Teile mit deinem Namen unterschreibst?“

Mein zweites Ich überlegte kurz.

„Da ist was dran.“  

„Könnte für Verwirrung sorgen.“

„Aber irgendwas müssen wir doch tun“, maulte das zweite Ich am Schreibtisch.

„Ich geh jetzt erst mal pinkeln.“

„Du warst schon.“

„Du meinst, DU warst schon?“

„Ja, das sollte wohl reichen, oder nicht?“

Anscheinend bedeutet es für zwei Ichs wohl auch zwei Blasen. Als ich aufstehen wollte, stieß ich gegen etwas kaltes Hartes.

„Hier ist ’ne Knarre im Bett?“

„Was du nichts sagst.“

Ich kümmerte mich nicht weiter drum, stieg aus dem Bett und ging zum Klo. Als ich zurückkehrte, war mein zweites Ich verschwunden. Gott sei dank, nur ein Albtraum, und ein ziemlich kranker dazu. Ich kuschelte mich wieder in die Laken. Die Pistole fiel dabei hinters Bett. Na ja, irgendwie ein guter Platz, da kann sie erst mal bleiben. Meine Mutter trat ins Zimmer.

„Ey Mutter, wie wäre es, wenn du mal anklopfst?“

Doch sie reagierte überhaupt nicht. Hinter ihr kam Martina herein! Ich hatte sie seit Wochen nicht gesehen. Sie sah fantastisch aus, trotz der verheulten Augen.

„Ja, kommt ruhig alle rein, macht’s euch gemütlich, dass ich noch schlafen könnte, scheint ja keinen zu interessieren“, sagte ich in spöttischem Ton, doch sie kümmerten sich nicht um mich. Schmollend wandte ich mich im Bett um und blickte stumpf gegen die Wand. Doch insgeheim war ich froh, dass Martina da war. Am liebsten hätte ich sie in mein Bett geholt. Auf meine Mutter konnte ich hier gut verzichten. Es wunderte mich ohnehin, dass die beiden wieder miteinander sprachen. Nachdem meine Mutter ihr letztes Jahr zur Abtreibung geraten oder sie vielmehr dazu genötigt hatte, war Funkstille gewesen.

„Hier habe ich ihn gefunden“, hörte ich Mutter in ihrer typisch theatralischen Art sagen.

„Ich will das nicht hören!“, brauste Martina auf.

„Ich dachte, es interessiert dich vielleicht.“

„Was soll mich daran interessieren, wo und in welchen Zustand ihr ihn gefunden habt!“

„Wie du meinst.“

„Sag mir lieber, ob wirklich kein Abschiedsbrief zu finden war.“

„Nein, meine Liebe, da war keiner, du kannst ja selber auf dem Schreibtisch nachschauen, wenn du mir nicht traust.“

„Dir trauen, pah!“, rief Martina aus.

Ich hörte, wie Martina den Schreibtisch absuchte, auch die Schubladen zog sie auf. Sie müsste doch eigentlich die Kondolenzschreiben entdecken, aber anscheinend übersah sie sie.

Ich schaute an der Wand hoch, daran klebte Blut, und zwar nicht gerade wenig. Was war denn hier passiert?

„Nichts“, stieß Martina hervor. Sie begann zu heulen. Ich drehte mich um und blickte sie an. Sie sah mich mit ihren verweinten Augen an und schaute auch gleichzeitig durch mich durch. Sie hatte es noch nie leiden können, wenn ich bis in die Puppen schlief.

„Willst du das Bett nicht mal endlich wegwerfen“, giftete Martina meine Mutter an. „Und vielleicht mal die Wand streich…“ Hier versagte ihre Stimme. Heulend stürmte sie aus dem Zimmer.

„Martina, nun warte doch!“ Meine Mutter folgte ihr. Ich war wieder allein.

„Du könntest wirklich langsam mal aufstehen.“ Mein zweites Ich war wieder da.

„Wo hast du dich denn die ganze Zeit versteckt?“, fragte ich.

„Ich war die ganze Zeit über hier am Schreibtisch.“

„Ja sicher.“

„Du wolltest mich wohl nicht sehen. Ohnehin wird es langsam Zeit für uns.“

„Für was?“

„Wir verschwinden von hier.“

„Aber ich will noch ein bisschen schlafen, ich bin sooo müde.“

„Du wirst noch alle Zeit der Welt zum Schlafen haben. Ich hab unseren Abschiedsbrief noch eben schnell fertig geschrieben. Nur schade, dass sie ihn nie mehr lesen wird.“

„Was steht denn drin?“

Liebe Martina, es tut mir leid, dass ich dich jetzt verlassen werde, aber glaube mir, es ist besser so, ich wünsche dir ein schönes Leben. Vergiss mich bitte. Dein dich immer noch liebender Freund Frank.“

„Ein bisschen knapp und unverbindlich, findest du nicht? Außerdem erklärst du nichts – was auch immer.“

„Dann mach’s doch selbst, wenn du’s besser weißt.“

„Ich bin müde, so müde.“

„Also gehen wir.“

„Wohin?“

„Wirst schon sehen.“

„Kann ich da schlafen?“

„Oh ja, solange du willst – bis in alle Ewigkeit.“

„Das klingt gut … Was ist denn mit der Wand passiert?“

„Frag nicht so blöd und komm.“

„Und was ist mit der Pistole?“

„Welche Pistole?“

„Die mir hinters Bett gefallen ist, sollen wir die einfach da liegen lassen?“

„Da ist nie eine Pistole gewesen, das bildest du dir nur ein, und jetzt lass uns gehen.“

„Na gut.“

Ich stieg aus dem Bett, hundemüde, wie ich war. Vielleicht hatte ich wirklich nur geträumt. Und wenn nicht? Hinterm Bett war die Knarre jedenfalls erst mal sicher.

„Aber was ist mit der Wand?“, fragte ich abermals.

„Was soll damit sein, eine Wand halt, wie jede andere.“

„Na gut, also von mir aus gehen wir. Wohin überhaupt?“

„Frag nicht so dumm.“

Ich fragte nicht mehr dumm. Ich war ohnehin zu müde.

 

Jörn Birkholz