5. Februar 2017

Auch ein 6. Februar

 

Pierre Drieu la Rochelle: Chroniques des années 30

 

Das Wort chroniques im Titel übersetzt man am besten mit "Berichte" oder "Feuilletons", denn die eher kurzen Texte sind fast ausnahmslos in französischen Zeitungen und Zeitschriften in den 1930er Jahren erschienen (Nouvelle Revue Française, Le Figaro, La Revue Européenne etc.). Der Titel stammt übrigens nicht von Drieu, und die Zusammenstellung der Texte geht auf den Herausgeber, Christian Dedet, zurück. In den letzten Jahren hat der verfemte Autor Drieu erneut Aufmerksamkeit auf sich gezogen, denn ein Teil seines Werks ist 2012 in der Klassikerausgabe der Bibliothèque de la Pléiade erschienen. Aber eben nur ein Teil. Der Herausgeberkreis der Pléiade verfuhr genauso wie bei Céline: keine "schmutzigen" Geschichten. Drieu und Céline hatten sich als Kollaborateure nicht nur in Frankreich unmöglich gemacht. Jedenfalls eine Zeit lang. Wenn Dedet jetzt "Berichte der 30er Jahre" präsentiert, so legt er dankenswerterweise den Blick auf den kritisch-publizistischen Drieu, den die Pléiade in ihre Ausgabe nicht mit einbezog. Aber auch dieser schmale Band verdankt sich einer Reinigung. Jeder, der mit dem Drieu der Romane und Erzählungen ein wenig vertraut ist, wird den Autor auch in diesen Feuilletons wiedererkennen. Aber die politische Radikalisierung Drieus und seine Parteigängerschaft für die PPF Doriots, eines ehemaligen Kommunisten, der nach rechts abdrehte, bilden diese 33 kurzen Texte nicht ab. Die Strategie des Herausgebers ist klar: ein anderes Bild von Drieu zu zeichnen, und zwar von ihm selbst. Der Leser hat es also nicht mit einem Fall von entschuldbarer Zensur zu tun oder mit einem Ablenkungsmanöver (das wäre auch nicht gut möglich), sondern mit dem Vorschlag, diesem Autor eine neue Facette abzugewinnen. Dieses Unterfangen kann man nur unterstützen, denn es geht hier natürlich in erster Linie um Drieu, aber eben auch um ein bestimmtes Bild Frankreichs der 30er Jahre und um ein fragiles Gebilde, das dem Autor seit den 20er Jahren wichtig gewesen ist: Europa, immerhin auch das letzte Wort dieser Sammlung. In einer Reihe von "Berichten" widmet sich Drieu dem Verhältnis Frankreichs zu einigen anderen europäischen Ländern wie Deutschland (Hitlers), Italien (Mussolinis) oder der Sowjetunion (Stalins). Drieu hat den Eindruck, dass diese Länder ein Kapitel aufgeschlagen haben, das Frankreich noch unangetastet vor sich habe, die Beschäftigung mit dem Körper. Oder auch die Entdeckung des Körpers, aber nicht unbedingt im Sinne eines ominösen Volkskörpers. Die Entdeckung des Körpers schließe die Wiederentdeckung der Natur ein (Stichwort "Camping") als grandioser Möglichkeit, den Städten, "diesen monströsen Konzentrationslagern", zumindest ein Zeit lang zu entkommen. Das Wort, das der heutige Leser selbst monströs finden wird, stammt aus dem Mai 1935, zu finden in dem Bericht über den "Frühling in der Stadt", veröffentlicht in Le Figaro. Drieu ist Intellektueller durch und durch, aber gerade deshalb auch ansprechbar, verführbar von der "anderen Seite". Er redet durchaus nicht Rousseau das Wort, und er bindet auch nicht die Faszination des Körpers in irgendein politisches Konzept ein. Diese Beachtung des "anderen" (Xavier de Maistre), also des Körpers, hat weniger mit Hygiene als mit Selbstachtung zu tun, die man sich und den anderen schuldig sei. Genau hier passiert aber etwas Entscheidendes: Auch wenn Drieu in diesem Zusammenhang von einer gewissen Rückständigkeit Frankreichs im Verhältnis zu anderen Nationen spricht, so ist er doch weit davon entfernt, "den" Körper oder "die" Natur als Ideologeme einer voranschreitenden politischen Totalisierung zu sehen. Der Leser gewinnt den Eindruck, dass es Drieu eher um eine allgemeine Atmosphärik, eine steigerbare Appetanz, um ein Klima geht, das die Selbstaffirmation erleichtert. Die Neue Sachlichkeit erfährt in den 30er Jahren eine Dosis Selbstbewusstsein. Insofern, als "modern" von all seiner unangenehmen Prätention befreit wird – und Drieu tut das, weil er dieses Zauberwort eher nüchtern wie Stendhal als das "Rezente" begreift, das auch bald alt sein wird – sind auch die 30er Jahre eine Zeit der Moderne, mit all den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, die in einer Zeit stecken. Und noch etwas zeigen diese "Berichte". Es ist nicht hilfreich, bestimmte Autoren als "faschistisch" zu bezeichnen. Ein solches Etikett verhindert eher das Nachdenken über bestimmte Konstellationen einer Zeit, als dass es die Reflexion befördert. Das manchmal Unangenehme, das Fatale von Autoren wie Drieu, Céline oder auch Benn soll nicht ausgeblendet werden. Aber die Verurteilung des Fatalen sollte nicht die gesamte Figur ausblenden, denn damit erlösche eine ganze Konstellation. Hinter den Namen stehen seltsame Kräfte, die den Genannten, aber natürlich auch den allermeisten anderen, als die Kräfte mit der oder der Drift gar nicht klar sind, wahrscheinlich auch im Moment nicht klar sein können. Insofern verweisen diese Chroniques als Antidot auf gewisse chronische Schwächen, ein Kapitel zu schnell zu schließen.

Am Abend des 6. Februar 1934 geht ein Mann das linke Seine-Ufer ab. Absperrungen, leere Straßen. Er nimmt einen Bus, der ihn über Umwege zur Madeleine bringt. Eine dichte Menge in der Rue Royale, an den Ecken Polizei. Etwas weiter weg stößt er auf eine wütende Menge, ein Verwunderter, vielleicht ein Toter, wird mit einem Wagen abtransportiert. Auf einem Platz große Aufregung, weitere Verletzte, in der Mitte brennt ein Bus. An einem Brückenkopf stehen sich eine Menge junger Leute verschiedener Couleur, Bürger, Angestellte, Arbeiter, und ein massives Polizeiaufgebot gegenüber. Alte Kämpfer [vielleicht Mitglieder von François de la Rocques "Croix de feu", einem Veteranenclub des Großen Kriegs] auf den Champs-Élysées, Bürger und Kleinbürger beklagen, keine Anweisungen und keine Chefs zu haben. Etwas weiter oben scheinen Kommunisten zu sein. Woanders, in der rue Saint-Honoré, singt eine Masse die Marseillaise. Später kommt der Mann wieder zur Madelaine, erneut nervöse Mengen, die Provokationen mit den mobilen Einsatzkommandos austauschen. Zeitungen werden verkauft. "Mehrheit für Daladier". Alles ist in Bewegung, alle Klassen vermischt. Kommunisten rufen: "Überall Sowjets! Nieder mit Chiappe!" Dem Mann gefällt das. Auf der place de la Concorde verlieren sich zwanzigtausend Menschen in den "abstrakten Räumen dieser schönsten Geometrie der Welt". Überall hört man: "Morgen werden wir bewaffnet sein." Pflastersteine fliegen, eine Schwadron Berittener attackiert, Tausende junger Leute fliehen in alle Richtungen. Auch der Mann flüchtet, er sucht Schutz unter Bäumen, doch die Reiter folgen ihm, verletzen ihn, lassen ab. Die Menge verläuft sich in der Nacht, voller Hass, revanchelustig. Der Mann, der diesem Ereignis beiwohnt, ist Pierre Drieu la Rochelle. Vielleicht schreibt er gleich seine Erlebnisse auf, denn schon am 8. Februar 1934 erscheint sein Bericht, aus dem hier einige Details herausgegriffen wurden, in der Sonderausgabe des Wochenmagazins VU unter dem ambivalenten Titel "Pas d'anarchie". Der 6. Februar wird in die französischen Geschichtsbücher eingehen. Links sieht man diesen Tag vor allem als Versuch der Rechten, die (linke) Regierung zu stürzen. Andere Stimmen vermissen dazu allerdings einen Plan "der" Rechten, die es eben als koordinierte Bewegung gar nicht gab. Auf jeden Fall äußerten an diesem Tag und an den folgenden "Patrioten", rechte Gruppen aller Couleur, ihren Unmut über das korrrupte parlamentarische System, das nach der Stavisky-Affäre in eine echte Krise geraten war. Für Drieu ergibt sich in dieser "Stimmung des Februar 34" noch etwas anderes. In einem weiteren Feuilleton aus dem März 1934 greift er zurück auf das Aufständische beider Richtungen, links und rechts, symbolisiert durch das Singen der Marseillaise und der Internationale. Ihm ist klar, dass "Kommunisten" und "Patrioten" nicht dasselbe sind. Er betont es zweimal. Und doch: "Sie waren einander doch ziemlich nahe. Einmal, gegen zehn Uhr am Dienstag, in der Rue Royale, sang man in der Menge, die sich zur place de la Concorde stürzte, um das große Geknalle um elf Uhr über sich ergehen zu lassen, durcheinander die Marseillaise und die Internationale. Ich hätte gewollt, dass dieser Moment für immer andauern würde." Der Wunsch einer großen Volksfront ist nicht in Erfüllung gegangen.

Dieter Wenk (11-16)

Pierre Drieu la Rochelle: Chroniques des années 30, présenté par Christian Dedet, Paris 2016 (Les Éditions de Paris)

amazon